Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


[ Evakuierung ]  (1944-1945)

aus dem Anhang der Ratheimer Chronik von Peter Schlebusch, aufbereitet von Helmut Winkens
 

[ Lüchtringen ]

Peter Schlebusch 1944
Peter Schlebusch 1944

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Der unbarmherzige Krieg nahm seinen Fortgang. Jede Nacht flogen feindliche Fluggeschwader über unsere Heimat und zertrümmerten unsere Städte, Verkehrszentren und unsere Industrie. Die Front näherte sich unserer Reichsgrenze, Ratheim wurde geräumt, die Menschen evakuiert.

Am 25. September kamen wir in Lüchtringen, Kreis Höxter, Nordwestfalen an, nachdem uns Bad Drieburg die Aufnahme verweigert hatte. Auch bei dieser Gelegenheit war Gottes Vorsehung mit mir. Ich bekam ein Quartier mit Familienanschluss. Natürlich zahlte ich Kostgeld. Wir bekamen anfangs noch Flüchtlingsgeld und ich bekam meine Rente weiter. Ich wurde bei einem Schneidermeister, der auch noch eine kleine Landwirtschaft betrieb [und] der auch Kriegsbeschädigter des ersten Weltkriegs war, einquartiert. Ich aß mit am Familientisch und [hatte] ein sehr schönes Schlafzimmer mit zwei Betten; nur musste ich, wenn Besuch kam (männlichen Geschlechts), bei mir im zweiten Bett schlafen lassen. Als auch dort die Front näher kam, schlief eine Nacht ein Major der Flak bei mir. Dieser klärte mich ausführlich über die Kriegslage auf: der Krieg war verloren.

Der Schneidermeister hatte auch ein oder zwei Gesellen und die älteste Tochter Inge arbeitete mit in der Werkstätte. Die Tochter war nur auf Ärmelmachen spezialisiert. Es wurden auch viele Damenkostüme hier angefertigt. Da es damals auch Raucherkarten für die Frauen gab, bekam der Schneidermeister bald jeden Tag von den Frauen Rauchwaren spendiert. Wenn ich nun abends nach Hause kam und in der Werkstatt eintrat, war das erste, was er tat: er teilte mit mir seine gehamsterten Rauchwaren. Da ich mich auch (so gut es ging) im Hause nützlich machte, w.z.B. ich half seinem Sohn, der noch zur Schule ging, bei der Hausaufgabe; beim Holz zerstückeln half ich, denn dort wurde viel Holz verheizt. Samstags kehrte ich den Hof u.s.w. Auch in ganz Lüchtringen war ich gern gesehen, weil ich mich dem dortigen Volksgebrauch anpasste.

In einem Raum des kath. Jugendheimes, das uns der Herr Pastor gern zur Verfügung stellte, wurden alle Beschwerden, Gesuche usw. der Flüchtlinge geregelt. Die meisten der Flüchtlinge aßen in der Gemeinschaftsküche. Was diese dort erhielten war zu wenig um zu leben und zu viel zum Sterben. Überall sind Schmarotzer.
 

[ Ein Schlachtfest ]

In diesem Zusammenhang muss ich über eine Schweineschlachtung bei meinem Quartierwirt berichten. Einige Tage vor der Schlachtung hörte ich, ist der und ist der bestellt. Am Tage der Schlachtung sammelte sich die Küche voller Menschen, zuletzt kam der Schlachter. Das Schweinchen, zirka 350 Pfund, wurde aus dem Stall geholt, mit den Hinterbeinen irgendwo festgebunden, ein Schlag auf den Kopf und abgestochen. Als man glaubte, das Schwein sei tot, wurde es in eine Mulde gehoben. Als der Schlachter mit heißem Wasser dem Schwein zu nahe kam, um es zu bräuen, wurde das Schweinchen wieder lebendig und sprang aus der Mulde heraus. Es wurde dann noch einmal an einem Vorderbeinchen gepumpt und es floss noch etwas Blut aus der Stechwunde. Nun glaubte man wirklich, das Schweinchen sei tot. Aber weit gefehlt! Das heiße Wasser machte es wieder lebend. Es hatte nun aber nicht mehr die Kraft, aus der Mulde zu springen. Nochmals gepumpt und nun war das arme Tier wirklich tot. Auch das heiße Wasser mochte es nicht mehr lebend machen.

Als man nun glaubte, mit dem heißen Wasser sei die Haut des Schweines rasierfähig, fiel man mit 5 Menschen über das tote Schwein her, um es rein zu schaben. Der Eine war dem Anderen im Weg. Endlich hatte man das Schwein an der Leiter hängen. Nachher sagte ich zu meinem Quartierwirt:

"Das Schweineschlachten war aber eine Murkserei!"
"Ja, sagte der, der richtige Schlachter ist zur Wehrmacht eingezogen." Dieser wäre nur ein Aushilfeschlachter.

Am ersten Mittag wurde die Leber gebraten. Abends war dann das Schlachtfest, wozu einige Freunde und Bekannte des Hauses eingeladen waren. Das halbe Schwein wurde verwurstet. Koteletts und Pannas kannte man dort nicht. Überhaupt wurde da das Schlachtverbot nicht so streng gehandhabt wie bei uns. Mein Quartierwirt schlachtete zwei schwere Schweine und hatte auch die Fleischkarte.
 

[ Die Front ]

Auch hier nahte die Front des Krieges. Lüchtringen blieb vom Krieg verschont. Lag es an Folgendem: Die Nazi-Machthaber hatten auch in Lüchtringen veranlasst, die Kreuze aus den Schulen zu entfernen. Als die Kinder am anderen Morgen zur Schule kamen, hingen die Kreuze wieder an ihrem Platz und sind auch hängen geblieben, obschon einer der Lehrer SA-Standartenführer war. Dieser Lehrer hat auch sehr viel für uns Flüchtlinge getan.

Unter dramatischen Umständen kamen die Amis hier ins Dorf. Sie wurden von jungen Mädchen von Höxter ins Dorf geholt, nachdem man die weiße Fahne auf dem Kirchturm ausgehangen hatte. Die Amis waren aber kaum abgerückt mit einem Jeep, [da] erschien ein ganz junger Leutnant mit vier Mann und holte die Fahne wieder herunter. Nachdem er den Bürgermeister für das Hissen der weißen Fahnen verantwortlich machte und dieser sich aber zur Wehr setzte, zog dieser junge Leutnant seine Pistole und wollte den Bürgermeister erschießen. Glücklicherweise versagte die Pistole und ehe der Leutnant die Pistole in Ordnung gebracht hatte, war der Ami wieder da. Die Flucht war die einzige Möglichkeit zu entkommen. Zuvor hatte er aber die Fähre über die Weser sprengen lassen. Nachher hieß es, seine eigenen Leute hätten ihn umgebracht.

Nachdem sich die Front näherte, hatte sich eine Anzahl hoher Offiziere, darunter ein General, von den Truppen abgesetzt, weil sie in der Umgegend von Lüchtringen zu Hause waren. Sie hielten sich in einem Heuschober versteckt. Einen vorbei kommenden Lüchtringer Einwohner baten sie, weil sie Hunger hatten, ihnen etwas Essbares zu besorgen. Aber [anstatt] ihnen etwas zum Essen zu bringen, verriet er sie an die Amerikaner. Als sie nun von den Amis mit Autos durch Lüchtringen in Gefangenschaft gebracht wurden, riefen sie den Lüchtringern zu: "Das verdanken wir euch!"

Eines Nachts fuhren amerikanische Panzer bis an die Weser heran und beschossen über Lüchtringen hinweg die Verkehrsstraße, die über den Solling nach Holzminden führt, weil über diese Straße die deutsche Wehrmacht zog. In dieser Nacht hatten alle Lüchtringer große Angst ausgestanden. Ich lag zu Bett und dachte: "Lüchtringen ist nicht das Ziel des Beschusses."

Als nun auch Lüchtringen vom Krieg überrollt wurde, wurde es zuerst von Amerikanern besetzt, die in der neuen Schule Quartier bezogen. Aber die Besatzung erwies sich nicht als sehr freundlich. Radios, Ringe und sonstige Schmuckstücke wurden beschlagnahmt. Eine goldene Taschenuhr für ein Päckchen Zigaretten wollte man mir abnehmen. Aber handgreiflich wurden sie nicht, sonst hätte es ja auch einen Toten gegeben.

Da die Fähre über die Weser gesprengt war, war ja vorläufig an eine Heimkehr nicht zu denken. Es wurde aber alles aufgeboten, um die Fähre wieder in Gang zu bringen. Als dieses der Fall war und der Krieg hatte durch unsere Kapitulation ein Ende gefunden, fing das Zurückfluten der Flüchtlinge und Fremdarbeiter an. Mittlerweile waren die Amis abgerückt und es kamen die Belgier. Diese bewiesen sich viel freundlicher als die Amis. Auch die Fähre wurde von den Belgiern bewacht. Der Posten saß auf einem Stuhl und sein Gewehr lehnte gegen eine Mauer. Als der Posten den Rücken gedreht hatte kamen Kinder und gingen mit seinem Gewehr laufen und der Posten hinterher. Ein komischer Anblick! Der Posten wurde mit "Willi" gerufen, sein Vater war ein gebürtiger Deutscher.

Die Silos in Höxter wurden gewaltsam geöffnet und der Inhalt geraubt. Die einheimischen Bauern fuhren sich das Zeug (bestehend in Lebensmitteln, Textilien und Rauchwaren) nach Hause. Nach einer Verordnung der Besatzungsbehörde mussten die Sachen an einem bestimmten Platz nachher abgegeben werden. Einiges wurde unter den Flüchtlingen verteilt, aber die Einheimischen waren raffinierter. Wieviel zurück behalten wurde, entzieht sich meiner Kenntnis.
 

Die Fahrt zurück zur Heimat

Durch Verhandlung mit der Besatzungsbehörde hatte ich es erreicht, dass uns Kriegsopfer mit unseren Angehörigen das Verkehrsamt in Höxter in die Heimat zurück befördern musste.  Mit einer diesbezüglichen Bescheinigung ging ich zum Straßenverkehrsamt in Höxter und legte dem Leiter des Amtes diese Bescheinigung vor. In diesem Augenblick ging die Tür auf und ein Besitzer eines Fernlastzuges trat ein. Die Frage, ob es möglich sei, das, was in der Bescheinigung stand, durchzuführen, wurde mit "Ja" beantwortet, denn er musste Gerste zu einer Brauerei nach Köln bringen. Dieses war an einem Freitag.

"Die Fahrt geht am kommenden Sonntag los. Samstag Spätnachmittag wird verladen. Da aber die Fähre so einen schweren Lastzug nicht tragen kann, müssen die Sachen jenseits der Weser gebracht werden."

Dieses geschah auch. Die Verladung verzögerte sich dadurch, dass plötzlich eine schwere Gewitterschauer hernieder prasselte. Der voll beladene Lastzug fuhr bis Höxter, wo er unter Bewachung bis zum anderen Morgen stehen blieb. Die Lüchtringer Bauern fuhren uns am anderen Morgen mit ihren Leiterwagen bis [Höxter] und gegen 6-Uhr morgens ging es der Heimat zu. Dieses war am 24. Juli 1945.

Die Fahrt ging ohne Unterbrechung bis am Rhein bei Düsseldorf. Hier wurde eine kleine Pause eingelegt. Weil die Brücke über den Rhein gesprengt war, mussten wir über eine Kriegsbrücke (Pontonbrücke) fahren, die aber durch die Schwere des Lastzuges tief ins Wasser sank. Es ging aber alles gut. Auf dem ganzen Weg habe ich keinen Besatzungssoldat gesehen.

Gegen 2:30 nachmittags kamen wir in Ratheim auf dem Marktplatz an. Der Fahrer wurde entlohnt. Die Fahrt kostete 600 Mark, auf die Beteiligten umgerechnet war das nicht viel. Die Hauptsache war: wir waren wieder zu Hause in unserer Heimat. Ein Bekannter von mir, der in der Nähe des Marktplatzes wohnte, spannte sein Pferd in den Wagen und fuhr meine Sachen nach Hause. So kamen wir um 3-Uhr nachmittags zu Hause an.


[Einschub aus der Ratheimer Chronik]

In der Evakuierung von Ratheim sind fern der Heimat gestorben:

Name Sterbeort
Wienen, Frau W. Lüchtringen
Greven, Fritz Godelheim
Jansen, Christine Osterwick
Odinius, Karl Brenkhausen
Lentzen, Cornelia Lüchtringen
Winkens, Katharina Nieheim
Weith, Maria Westfalen
Vervoort, Maria Gondelheim
Schlebusch, Heinrich Neuhs
Pesch, August Höxter
Minkenberg, Helene Höxter
Düsterwald, Thomas Lüchtringen
Plum, Albert Lüchtringen
Banken, Amalia Lüchtringen

 


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