Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


[ Bei Glanzstoff ] (1916-1925)

aus dem Anhang der Ratheimer Chronik von Peter Schlebusch, aufbereitet von Helmut Winkens
 

Nach meiner Entlassung

Nach meiner Entlassung kehrte ich bei Verwandten in Rheydt ein, um mich weiter ausbilden zu können. Ich sollte die Postagentur in Ratheim übernehmen. Dieserhalb wurde ich schon vom Postmeister in Erkelenz geprüft. Ich hatte die Wahl, die Postagentur sofort zu übernehmen oder zu warten, bis der jetzige Inhaber, ein Krieger von 1870-72, das Zeitliche gesegnet hatte. Ich entschied mich für das Letztere.

Eines Tages wurde ich zu unserem Berufsberater Amtsgerichtsrat a.D. Grouthousen, Rittmeister d.L., in Heinsberg gerufen. Er eröffnete mir, dass er eine schöne Stelle auf der Glanzstoff Oberbruch für mich hätte. Ich stellte mich in Oberbruch vor. Das so genannte Reklamationsbüro sollte ich dort übernehmen, weil der jetzige Inhaber noch wehrpflichtig war. Dieser gab aber zu bedenken, dass ich dieses schwerlich übernehmen konnte, weil des öfteren die Bezirkskommandos in Rheydt, Jülich und Aachen zu besuchen seien. Dieses leuchtete mir auch ein. Der Betriebsdirektor Dr. Hesse hatte aber eine andere Stelle für mich.

Am Tage nach Dreikönige, am 7. Januar 1917 wurde ich Werksangehöriger der Glanzstofffabrik Oberbruch. Ich wurde dem Spinnsaalbüro zugeteilt. In dieser Abteilung (Spinnerei) waren 600-700 Arbeiter, Arbeiterinnen, Meister und Aufseher beschäftigt. Einmal waren es sogar 1500. Meine Aufgabe war es, die Zahl der Arbeiter zu bestimmen, durch Verrechnung der Arbeitsgänge. (Die überzähligen Arbeiter wurden dann der Abteilung Landwirtschaft zugeteilt, die sowieso ein Zuschuss-Gebiet der Firma war.) Lohnlisten schreiben, Nachzahlungen und Prämien verrechnen und nachher musste ich die Kontrolluhren und Kontrollkarten überwachen. Obschon in normalen Zeiten die Belegschaft dieser Abtl. nur mit Männern belegt war, waren jetzt in Kriegszeiten die Morgen- und Nachmittagsschicht mit Frauen besetzt. Die Arbeitszeiten waren: Morgenschicht von morgens 6-Uhr bis nachmittags 2-Uhr, die Nachmittagsschicht von nachmittags 2-Uhr bis abends 10-Uhr und die Nachtschicht von abends 10-Uhr bis morgens 6-Uhr.

Der Betriebsdirektor Dr. Hesse hatte eine Schwäche für schöne Frauen. Ging er durch den Betrieb und sah zufällig eine schöne, große Frau an einer Maschine stehen, kam er zu uns herein und erkundigte sich nach dem Namen dieser Frau oder Mädchen und sagte dann zum Obermeister Hermann Röhrens:

"Sie müssen die zur Vorarbeiterin machen!"

Obermeister Hermann Röhrens war ein Kunstfaserfachmann, der diese Entwicklung von Grund auf mitgemacht hat. Er war ein Bruder von Wilhelm Röhrens, der Leiter des Fabrikkonsums war. Wilhelm Röhrens hatte eine Cousine von mir als Frau. Hermann Röhrens war auch Führer der Werks-Feuerwehr. Auch die Angelegenheiten der Werksfeuerwehr wurden bei uns im Büro erledigt.

Nach kurzer Zeit kam ich in das Angestelltenverhältnis. Ein Wichtigtuer verwehrte mir aber die Mitgliedschaft in der Angestelltenversicherung. Nach Art meiner Beschäftigung entschied aber die Angestelltenversicherung in Berlin-Wilmersdorf meine Angestelltenversicherungspflicht.
 

Glanzstofffabrik Oberbruch

In der Glanzstofffabrik Oberbruch wurde eine Kunstfaser hergestellt, kurz Viskose genannt. Der Grundstoff dieser Viskose war Fichtenholz, das zu Papier verarbeitet wurde, das man dann Zellstoff nannte. Das Fichtenholz kam hauptsächlich aus Finnland oder Norwegen. Dieser Zellstoff kam in Ballen verpackt in Oberbruch an. Die Bogen wurden dann in Schreibmaschinenpapiergröße zerschnitten und kamen in ein Salzsäurenbad. Nachdem dieser Zellstoff aufgeweicht war, wurde die Salzsäure wieder herausgepresst, und kam in den Zerfasser.

Wenn die Menge hier heraus kam, sah die Masse aus wie frisch gefallener Schnee. Dieses wurde dann in Kästen verteilt und kam in die Vorreife bei genau 24 Grad und 2x 24 Stunden. 36 Kästen war eine Nummer. Nach 2x 24 Stunden kamen 36 Kästen in das so genannte Butterfass. Dieses Butterfass drehte sich um seine eigene Achse. Während das Butterfass rund lief, wurde Schwefelstoff in die Maschine geblasen. Nach 2 1/2 Std. sah die Masse ungefähr wie Pudding aus und kam in die Mischmaschine unter Zutat allerlei Chemikalien. Von der Mischmaschine wurde die Masse durch mehrere Pressen in Vorreifekessel gedrückt. Hatte nun dieser Stoff eine gewisse Vorreife erlang, wurde er wieder durch verschiedene Pressen zum Spinnkessel gedrückt. Von hier aus ging es dann zur Spinnmaschine, wobei der Stoff wiederum durch eine Presse gedrückt wurde.

In der Spinnmaschine wurde der Stoff durch eine Platindüse gedrückt und zwar in das so genannte Spinnbad, worin sich der Faden entwickelte. Der Faden lief eine Strecke durch das Spinnbad, erhärtete sich und lief dann auf eine Glaswalze. In der Platindüse waren 14-16-18-20-24 Löcher, je nach Titer (Sorte). Die Löcher in der Platindüse waren mit dem bloßen Auge nicht feststellbar. Verstopfte sich eines der Löcher in der Platindüse, so musste diese ausgewechselt und gereinigt werden. Ging einmal so eine Düse verloren, so war es ungefähr wie in der Bibel von der Frau, die eine Drachme verloren hatte. In diesem Fall wurde die ganze Fabrik auf den Kopf gestellt, alle Ecken und Enden wurden abgesucht, bis die Düse gefunden war.

Die Glaswalze lief auch je, nach Titer bis sie voll war, 1 1/2 bis 2 1/2 Stunden. War die Glaswalze mit der Kunstfaser voll, so kam dieses in die Wäsche, wo die Säure abgewaschen wurde. Von dort ging es in die Trockenkammer, von da in Spul-Haspel und Zwirnsaal, Säuberei, Seidenwäscherei und Färberei. Getrocknet, verpackt, zum Versand fertig.

Es kamen auch Ausländer, die sich [die] Fabrikation der Spinnfaser ansehen wollten. Es waren einmal Japaner. Alles wurde ihnen gezeigt, nur die Versuchsräume nicht. Was diese nicht sehen durften, sahen sie auch nicht.

Die Glanzstoff Oberbruch hatte außer der Spinnerei den Viskosenbetrieb, wo der Spinnstoff hergestellt wurde. Außerdem eine eigene Schlosserei, Schreinerei, Zimmerei, Anstreicherei, Dachdeckerei, Klempnerei, Rohrlegerei, Küche, Metzgerei, Gärtnerei, Landwirtschaft und Druckerei. Der Bestand der Werksangehörigen belief sich [auf] 5-6000.
 

Versorgungsamt Ratheim

Nachdem ich bei der Glanzstofffabrik ins Angestelltenverhältnis gekommen war, wurde meine Kriegsrente vom Versorgungsamt Aachen von 80 auf 70% herunter gedrückt, infolge der Gewöhnung. Zwei Jahre später stellte ich einen Verschlimmerungsantrag, der natürlich abgelehnt wurde. Mein Widerspruch hatte den Erfolg, dass [ich] vom Versorgungsgericht wieder meine 80% erhielt. Der Gerichtsarzt war mir sehr gewogen, als der Versorgungsrichter meinte, meine Verschlimmerung sei mehr Nervosität. Der Gerichtsarzt meinte darauf:

"Meine Herren, ich glaube, wenn Sie zeitlebens mit so einer schweren Prothese gehen müssten, würdet ihr auch wohl nervös!"

Ich hatte gewonnen.

Zwei Jahre später machte ich einen erneuten Antrag auf Verschlimmerung. Wurde auch wieder abgelehnt, obschon der mich untersuchende Versorgungsarzt meine Erwerbsminderung mit 100% bemaß. Dieses gefiel der Versorgungsbehörde nicht, man frug bei meinem Arbeitgeber an. Als die mit meiner Arbeit zufrieden waren, wurde ich zur versorgungsärztlichen Untersuchungsstelle nach Köln-Deutz zur Beobachtung geschickt, wo ich drei Tage verblieb. Diese "Knochenmühle", wie diese Stelle von den Kriegsopfern genannt wurde, beanstandete sogar das Urteil des Versorgungsgerichtes vor zwei Jahren. Sie bezeichnete dieses Urteil als Fehlurteil. An dem Versorgungsgericht war es wieder der Gerichtsarzt, der meine Angelegenheit rettete. Ich kam auf 90%. Nachher wurde ich von Amts wegen 100% erwerbsunfähig geschrieben.

Eigentlich hatte ich meinen ersten Verschlimmerungsantrag studienhalber gestellt. Im Jahre 1917 wurde hier in Ratheim schon eine Kriegsopferorganisation gegründet. Sie hieß "Interessengemeinschaft deutscher Kriegsopfer" und hatte ihren Sitz in Essen. In der gegründeten Ortsgruppe Ratheim wurde ich zweiter Vorsitzender und nach zwei Jahren, als der erste Vorsitzende mit Namen Flischer nach Köln zog, erster Vors. Dieses bin ich 43 Jahre gewesen, mit einer kleinen Unterbrechung im dritten Reich.
Als ich nun erster Vorsitzender war und die Kriegsopfer betreuen musste, kamen viele und beklagten sich über das unwürdige Verhalten der Versorgungsärzte und Richter. Ich wollte das nun am eigenen Leib erfahren. Aber ich bin zu dem Entschluss gekommen: demjenigen, der nichts hat, können auch die Versorgungsbehörden nichts machen.

Auch war ich im Kreisvorstand der Kriegsopferorganisation. Nach dem Kriege gab es mehrere Organisationen, die sich der Kriegsopfer annahmen. Unsere Organisation hieß "Zentralverband der Kriegsbeschädigten und Kriegshinterbliebenen". Wir Kriegsopfer haben immer um unser Recht kämpfen müssen. Da ich nun Ortsgruppenvorsitzender und Mitglied des Kreisvorstandes war, musste ich auch an vielen Tagungen teilnehmen. Dabei geschah einmal folgendes:
Die Tagung fand in Aachen in [den] oberen Räumen des Karlshauses statt. Gegen 13-Uhr wurde die Tagung unterbrochen, um in den unteren Räumen das Mittagessen einzunehmen. Als ich nun mit noch einem anderen Kameraden die Treppe herunter ging, brach mein Kunstbein in der Mitte entzwei. Ich ließ mich sogleich nach hinten auf die Hintere fallen. Ein Mädchen, das in einer Ecke stand und Zeitungen verkaufte, sprang hinzu und sagte:

"Ist etwas passiert?"
"Ja, der Mann hat ein Bein gebrochen."
"Das ist doch nicht möglich, der Mann lacht doch noch!"

Anstatt Mittag zu essen musste ich sorgen, dass ich mein Bein gehfertig bekam. Ein Kellner besorgte mir ein paar feste Gardinenstangen und das untere und obere Teil des Kunstbeines wurde damit zusammen gehalten. Ich kam mit dem geflickten Bein gut zu Hause an, hätte ich aber noch 100 Meter gehen müssen, dann wäre es vorbei gewesen.

Ich könnte noch von vielen Tagungen und über Kriegerfrauen und Kriegsbeschädigte berichten. Ich habe - soweit es an mir lag - jedem zu seinem Recht verholfen. Selbstverständlich habe ich auch für mein Recht gekämpft und bin gegenwärtig, soweit das Gesetz es zulässt, zufrieden.
Ab 1960 habe ich auch meinen Vorsitz in der Ortsgruppe Ratheim des V.d.K. niedergelegt und ich wurde zum Ehrenvorsitzenden ernannt. Auch hier stehe ich dem jetzigen Vorstand mit Rat und Tat zur Seite.
 

Zurück zur Glanzstoff

Nachdem ich im Angestellten-Verhältnis war, trat ich auch in die Angestelltengewerkschaft ein. Als ich aber in den Versammlungen die Erfahrung machen musste, dass man die höher gestellten Angestellten bevorzugte, trat ich wieder aus.

[Zwischenbericht folgt im nächsten Kapitel]
 

Noch einmal zurück zur Glanzstoff

Auch die Glanzstoff hatte durch den so genannten passiven Widerstand zu leiden. Alles, was zur Aufrechterhaltung des Betriebes notwendig war, musste mit Lastwagen herangeschafft werden. Dazu kam die Inflation, die 1920 ihren Anfang nahm. Man rechnete

Ab November 1924 war eine Billion eine feste Rentenmark. Dann wurde nur mit Rentenmark gerechnet.

Im Jahre 1923-24 wurde fast täglich gelöhnt, denn das Geld, das man heute bekam, war morgen wertlos. Da die Menge der Papierscheine nicht mehr herbeigeschafft werden konnte, ging der Betrieb dazu über, in der eigenen Druckerei selbst Papiergeld herzustellen. Wir Werksangehörigen hatten nun das Glück, dass wir im Werkskonsum für das Geld Lebensmittel oder Textilien je nach Familienzahl kaufen konnten.

Die nach der Inflation einsetzende schlechte Wirtschaftslage wirkte sich auch auf die Glanzstofffabrik Oberbruch aus. Es kam zur Rationalisierung. Die Firma ging in die holländische Firma "Aku" über. Ein Ingenieur namens Etzkorn wurde eigens dafür eingesetzt, diese Rationalisierung vorzunehmen und abzuwickeln. So wurde allmählich die Belegschaft von 5500 auf 2500 herunter gedrückt. Die Produktion blieb dieselbe, sie wurde sogar erhöht.

Auch für die Abtl. Spinnerei kam die Rationalisierung, Arbeitsvorgänge wurden zusammengelegt. Nachdem ich für einige hundert Belegschaftsmitglieder die Papiere fertig gemacht hatte, kam auch ich an die Reihe. Ich wurde gekündigt, Grund: unverheiratet und in guten wirtschaftlichen Verhältnissen. Der eigentliche Grund war aber folgender: von dem damaligen Betriebsdirektor Dr. Bauer wurde ich in der Mittagspause dabei ertappt, dass ich auf der Schreibmaschine Schriftstücke für Kriegsopfer verfasste. Dieser nahm mir das sehr übel, obschon sein Vorgänger, Dr. Zart, mich des öfteren dazu aufforderte, für Werksangehörige dieses zu tun. Dieser war auch Offizier gewesen. (Mit folgenden Betriebsdirektoren hatte ich zu tun: Dr. Hesse, Dr. Mönkemeyer, Dr. Hannemann, Dr. Zart und zuletzt Dr. Bauer).

Ich hatte nun beim Unglück auch ein bisschen Glück. Man hatte mich angestelltentariflich zu spät gekündigt. Man musste mir [ein] Dreivierteljahr das Gehalt auszahlen, [ich] brauchte aber dafür nichts zu tun.

 

Nächstes Kapitel: Vermieter und Bauherr (1920-1925)