Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


Evakuierungszeit 1944/45

von Johannes Bürger

 

Teil 1

Im Jahre 1994 - also nächstes Jahr - ist es schon 50 Jahre her, dass der Krieg unsere Heimat überzog und die Menschen zwangsweise evakuiert wurden.

Es ist in den letzten Jahrzehnten vieles geschrieben worden über den Kriegswinter 1944/45 an der Rurfront: in verschiedenen Ausgaben des Heimatkalenders, in Zeitungsberichten und auch in guten Buchveröffentlichungen. Einige Ratheimer Mitbürger haben auch einiges über diese schlimme Zeit festgehalten, was leider nicht veröffentlicht worden ist.
Entsprechend der Zweckbestimmung unseres Pfarrbriefes möchte ich nun versuchen, etwas über die Evakuierungszeit, soweit Ratheim davon betroffen war, festzuhalten. (Dabei danke ich Frau Sibille Kurth geb. Winkens, Frau Mechthilde Vervoort geb. Limburg und Herrn Peter Knippertz für einige wertvolle Hinweise.) Dass dies natürlich stark mit eigenem Erleben durchsetzt ist und deshalb weitgehend persönlich "gefärbt" ist, möge man mir nachsehen. Jeder, der diese Zeit und diese Ereignisse selbst miterlebt hat, wird andere Erinnerungen daran haben, die beim Lesen dieses Berichtes vielleicht aufgefrischt werden.

Im Juni 1944 landeten die alliierten Streitkräfte in der Normandie. Nach anfänglichen großen Schwierigkeiten - unmilitärisch ausgedrückt - schob sich dann ab Mitte Juli die Front verhältnismäßig schnell voran, auf uns zu. Die Übermacht der Amerikaner und Engländer war einfach zu groß. Ab Anfang September meinten wir in unserer Gegend, Kanonendonner zu hören. Die meisten Leute brachten mehr oder weniger offen zum Ausdruck, die Front möge doch bald hier sein und über uns hinweggehen. Sie wussten ‑ trotz gegenteiliger offizieller Berichterstattung -, dass der Krieg doch verloren war, und sie wünschten auch den Sieg des nationalsozialistischen deutschen Unrechtsstaates gar nicht herbei. Hinzu kam, dass seitens der Leitungen der "Partei" auf Gau-, Kreis- und örtlicher Ebene verlautbart wurde, dass die Zivilbevölkerung unsere Gegend räumen und ins Landesinnere zwangsweise evakuiert werde. Man sprach auch nachher noch von der "Räumung". Vor allem das stand wie ein Schreckgespenst vor uns. Wer will schon die Heimat verlassen!

Der Kanonendonner kam zwar immer näher; es kamen auch Gerüchte auf, "der Feind" habe die niederländische Grenze überschritten. Aber der Vormarsch der Alliierten stockte Anfang September doch. Männer im nicht mehr wehrfähigen Alter und Jungen ab 15 Jahren wurden zum "Schanzen" in Heimatnähe verpflichtet, so etwa im Dalheimer Wald. Am 10. September kam dann der Befehl zur zwangsweisen Evakuierung von Ratheim, bekannt gemacht an Bekanntmachungstafeln und Telegraphenmasten und durch Ausschellen (das gab es damals noch.). Bei Nichtbefolgen wurden strenge Sanktionen angedroht. Angstvolles Erschrecken überfiel unseren Ort. Dabei muss man auch bedenken, dass die meisten Familien aus Frauen, älteren Leuten und Kindern bestanden, weil die Männer Soldat waren.
Es wurde angeordnet, dass alle Ratheimer sich zu bestimmten Zeiten am Ratheimer Bahnhof einzufinden hatten mit höchstens 15 kg Handgepäck pro Person, außer denen, die aus irgendeinem Grund von der Ortsgruppenleitung - das war die örtliche Parteileitung - dienstverpflichtet wurden.

Der erste Transport fuhr vom Ratheimer Bahnhof am 10. September ab. Er hatte die Gegend von Gütersloh als Ziel, ohne dass die Leute dies vorher wussten. Der zweite Personenzug fuhr am 11. September und landete im Kreis Coesfeld. Wir wurden dem dritten Transport am 12. September zugeteilt. (Wir, das waren meine Mutter, meine drei Geschwister im Alter von 4, 9 und 11 Jahren und ich als 14jähriger. Mein Vater war einige Wochen vorher zum Schanzen nach Blumenthal/Eifel dienstverpflichtet worden.) Bei uns im selben Transportzug waren die Verwandten aus Busch und Gendorf. Nach welchen Kriterien die drei Transporte zusammengestellt worden sind, weiß ich heute nicht mehr.
Verschiedene Ratheimer, die in der Mönchengladbacher oder Düsseldorfer Gegend Verwandte oder Freunde hatten, entzogen sich dem zwangsweisen Massenabtransport und fuhren, teilweise mit Pferd und Wagen, teilweise aber auch zu Fuß mit einem Handwagen zu diesen. Einige Familien gelangten so oder anderswie in die Gegend von Brilon im heutigen Hochsauerlandkreis.
 

Teil 2

Nach langer, langer Nachtfahrt - einige Male stand unser Zug stundenlang auf Bahnhöfen im Ruhrgebiet, immer eines Luftangriffes gegenwärtig - kamen wir morgens am Bahnhof Höxter im Weserbergland an. Die meisten von uns hatten diesen Namen noch nie gehört, ganz zu schweigen davon, dass wir nicht wussten, in welche Gegend es uns verschlagen hatte.
Mit Militär-LKWs wurden wir - ich meine, wir wären zu etwa 600 - 700 Leuten gewesen - zur General-Weber­Kaserne tranportiert. Das war eine Panzerkaserne. Grosse Hallen waren mit Stroh ausgelegt, auf dem wir lagern konnten. Erschütternde Szenen spielten sich ab. Unter uns waren Mütter mit ihren einige Wochen alten Babies und auch sehr viele ältere Leute. Besonders lebhaft erinnere ich mich an wenige Wochen alte Mädchen-Zwillinge, die herzzerreißend weinten. (Wenn ich heute die Damen, die daraus geworden sind, in Ratheim sehe, steht mir das vor Augen.)

In unserer Halle war auch der vielen Ratheimern noch gut bekannte "Wennmacher Jüppke", Josef Winkens, ein sehr kleinwüchsiger, damals etwa 45 Jahre alter Mann, der mit seiner schon über 80jährigen Mutter in Krickelberg lebte. Frau Winkens, die Mutter, hatte schlohweißes langes Haar, das sie normalerweise zu einem Knoten zusammengebunden trug. Sie saß auf einem Gepäckstück, und Jüppke kämmte liebevoll das Haar seiner ob des Verlustes der Heimat tränenüberströmten Mutter.

Nach einigen Stunden, so etwa gegen Mittag, fuhren vierrädrige Wagen, die mit 2 Pferden bespannt waren, vor. (Wir kannten in unserer Gegend ja damals nur die zweirädrigen Karren.) Wir wurden auf die Wagen verfrachtet. Jedem der umliegenden Dörfer im Amt Höxter-Land wurde eine bestimmt Anzahl von Evakuierten zugeteilt. So fuhren die Wagen dann nach Brenkhausen, Ovenhausen, Löwendorf, Godelheim, Hohehaus, Albaxen, Lüchtringen und Fürstenau. Der größte Teil unserer Familie kam nach Fürstenau. Meine Grosseltern und der Gendorfer Teil unserer Familie blieben in der Stadt Höxter.

An der Schule in Fürstenau warteten schon unsere Quartiersleute auf uns, denen wir zugewiesen werden sollten. Beide Seiten waren verständlicherweise skeptisch; aber ich kann nicht sagen, dass die Einheimischen unfreundlich waren. Meine Mutter und die 3 jüngeren Geschwister kamen zu einem Kohlenhändler. Ich wurde allein einem größeren Bauern, der eine Domäne des bekannten Klosters Corvey bewirtschaftete, zugewiesen, weil dieser wohl eine Arbeitskraft in der Landwirtschaft brauchte. Dieser Bauer war auch Bürgermeister von Fürstenau, das 730 Einwohner zählte. Als ich im Hause ankam, fragte mich die freundliche Bäuerin, woher wir denn kämen. Als ich sagte, dass Ratheim mein Heimatort sei, ging ein freudiges, zugleich aber ungläubiges Erstaunen über ihr Gesicht. Sie fragte nach, ob es sich denn um das Ratheim handele, in dem das Schloss Haus Hall liege. Als ich das bejahte, erzählte sie, dass sie im Jahre 1912 auf Haus Hall bei der Baronin Spies von Büllesheim "die Küche gelernt" habe. Sie sprach von Hausbewohnern, die jetzt noch zum Haushalt der Familie Spies von Büllesheim gehören. Sie erinnerte sich auch gut an den damaligen Ratheimer Pastor Michael Thoma. Dieser sei ein gütiger Priester gewesen. Nur im Beichtstuhl sei er dann streng geworden, wenn die letzte Beichte nach seiner Auffassung zu lange zurückgelegen habe.

Man lebte sich langsam ein. Die Quartiersleute bekamen für jeden Evakuierten monatlich 60,-- DM. Das kam den Leuten gut zupass, denn Reiche gab es in dem Dorf nicht. Nach etwa einer Woche kamen die ersten Nachrichten von den Daheimgebliebenen. So war mein Vater inzwischen aus der Eifel vom Schanzen zurück und gehörte jetzt zur Notbelegschaft der Zeche Sophia Jacoba. Mit einigen Männern lebten sie in einem Nachbarhaus in Ratheim-Busch zusammen, zu denen auch der Polizist Peter Brandenberg gehörte, der für sie kochte. So war es auch an vielen anderen Stellen in Ratheim.

Die im Kreise Höxter verstreut lebenden Ratheimer besuchten sich des öfteren an Sonntagnachmittagen. Das machten auch solche, die in Ratheim nur wenig Kontakt miteinander gehabt hatten. Es war jedes Mal eine große aufrichtig‑herzliche Wiedersehensfreude. Zu schnell vergingen die Besuchsstunden mit Erzählen, wie man es denn angetroffen habe, über die Besonderheiten seines Dorfes, über die Eigenarten der Quartiersleute. Vor allem wurde über die Heimat gesprochen und ausgetauscht, was man gehört hatte von zu Hause. Man hörte von Todesnachrichten, von Zerstörungen in Ratheim und Umgebung, wer noch in Ratheim geblieben war usw.
Voll ohnmächtigen Zorns erfuhren wir, dass unsere Kirche von den örtlichen Nazibonzen für Parteiversammlungen missbraucht und mit dem Hitlerbild und der Hakenkreuzfahne entweiht worden sei.

Ab November 1944 konnte man für einige Tage nach Hause fahren. Viele erlebten deshalb in der Nacht zum 16. November den schrecklichen Bombenangriff auf Heinsberg. Die Besucher sahen nun auch selbst das Hitlerbild und die Hakenkreuzfahne in der Kirche hängen. (Allerdings wurde in der Kirche auch weiterhin Gottesdienst gefeiert.)

Ende 1944 rückte die Front immer näher auf Ratheim zu. Die letzten Bewohner verließen den Ort - auch die Notbelegschaft der Zeche - und kamen zu ihren Familien in Westfalen oder auch in die Gegend von Magdeburg und Bitterfeld. Andere Ratheimer gingen zwar aus dem Ort weg, blieben aber in der Gegend. Die beiden Ratheimer Feuerwehrleute Josef Jeurissen und Peter Tholen fanden in diesen Tagen auf dem Weg nach Gerderath durch Artilleriebeschuss den Tod.
Auch in Ottbergen, ihrem Evakuierungsort, kamen ein paar Ratheimer bei einem Bombenangriff um, u. a. Frau Muyres von der Burgstrasse. Aus dem Kreis Höxter ist noch zu berichten, dass wir uns sehr freuten, als uns im Dezember 1944 der damalige Ratheimer Pfarrverwalter Arnold Walbert besuchte.

 

Teil 3

Am 9. April drangen die Amerikaner in Fürstenau ein. Einen Monat später, nach Kriegsende, versuchten die ersten Ratheimer wieder nach Hause zu kommen. Wir wussten nicht, wie es in der Heimat aussah, ob die Hauser noch bewohnbar waren, wie das Leben weitergehen könnte.

Um den 20. Mai machten meine Cousinen Agnes und Anna und ich uns mit einem kleinen Handwagen auf die Heimreise. Ein Pferdewagen brachte uns bis Höxter. Ab dort fuhr schon ein Zug bis Altenbeken, aber nicht darüber hinaus. Von da aus gingen wir zu Fuß weiter über Paderborn, Salzkotten bis nahe bei Geseke. Dort trafen wir einen LKW mit Holzvergaser aus Uerdingen. Gegen eine großzügige Entlohnung mit Zigaretten, die wir im Kreis Höxter aus Wehrmachtsbeständen beim Heranrücken der Amerikaner ergattert hatten, nahm uns der Fahrer mit. In Essen übernachteten wir in einer zerstörten Papierfabrik, buddelten uns in Abfallpapier ein und überstanden so unbemerkt - voller Angst - den nächtlichen Besuch einer Horde von Männern.
Am nächsten Tag ging es nach einer unangenehmen Entlausung bei Duisburg über den Rhein und von Uerdingen aus zu Fuß in glühender Hitze - Ende Mai 1945 war es nämlich sehr heiß - in Richtung Heimat. Dabei sind mir die Trümmerberge zu beiden Straßenseiten in Mönchengladbach in besonders grässlicher Erinnerung geblieben. Nachts kampierten wir in einem Wirtshaussälchen diesseits von Rheindahlen. Morgens trafen wir dann Leute auf dem Feld bei Erkelenz, von denen wir erfuhren, dass sich die Kriegszerstörungen in Ratheim in Grenzen hielten. So war es dann auch! Als wir gegen Mittag Ratheim erreichten, trafen wir zwar auf Häuser ohne Dächer und Fensterscheiben, auf mit Unkraut übersäte Strassen und Bürgersteige, aber Gott sei Dank auf wenig total zerstörte Häuser.

Zwei Tage später war Fronleichnam. Am Morgen zog zum ersten Mal seit Jahren wieder die Fronleichnamsprozession durch die Gemeinde; es waren doch schon zahlreiche Leute nach Ratheim zurückgekehrt, die ersten übrigens schon Anfang April. Nachmittags wurde der vor der Evakuierung zum Pastor von Ratheim ernannte bisherige Pfarrer von Udenbreth/Eifel, August Pütz, durch Weihbischof Dr. Friedrich Hünermann, der zu der Zeit in Hückelhoven wohnte, eingeführt. (Pfarrer Lorenz Offermanns war am 25. Februar 1945 in Rheindahlen bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen.) Bernhard Meurer hielt dabei eine unvergesslich beeindruckende Begrüßungsansprache. Die Messen wurden am damaligen Mutter-Gottes-Altar gefeiert, weil der Chorraum der Kirche durch Granateinschläge unbenutzbar war.

Ende Juni 1945 kehrte dann unsere ganze Familie nach Ratheim zurück. Inzwischen fuhren wieder die Züge auf den Hauptstrecken. Immer mehr Ratheimer fanden sich wieder ein. Das Leben war sehr schwer. Man wusste nicht, was man morgen essen und anziehen sollte. Aber alle freuten sich über die Beendigung des Krieges und dass sie wieder in der Heimat waren.
Geschäfte gab es noch nicht, aber zunächst auch noch keine Lebensmittelkarten, die man an und für sich zum legalen Kauf des zum Leben Notwendigen brauchte. Plötzlich hörte man: "In Dremmen gibt es heute nachmittag Butter." In einem anderen Ort wurde Brot verkauft. Nachmittags lief man dann zu Fuß nach Dremmen oder anderswohin, um etwas an Lebensmitteln zu bekommen. Die meisten Leute hatten einen Garten, zu dessen Frühjahrsbestellung es noch nicht zu spät war. Einige hatten vor ihrer Evakuierung im Herbst noch Kartoffeln vergraben, die jetzt hervorgeholt wurden. Auf diese und viele andere Arten hielten sich die wieder Zurückgekehrten am Leben.
Ab Juli/August 1945 gab es dann auch wieder Lebensmittelkarten, auf denen man in den inzwischen eröffneten Lebensmittelgeschäften das Nötigste kaufen konnte. Bauern holten in Norddeutschland Kühe und Jungschweine. Man "besorgte" sich Dachziegel und Glas zur Reparatur der Häuser, zum Teil auf "Bezugsscheinen".

Die Zeche Sophia Jacoba nahm im Herbst wieder ihre Förderung auf. Nach und nach normalisierte sich das Leben, allerdings auf einem sehr niedrigen Niveau. So konnte man zunächst überhaupt keine Textilien kaufen. Alles schleppte sich so recht und schlecht dahin. Erst nach der Währungsreform am 20. Juni 1948 wurden die Lebensverhältnisse ganz plötzlich besser, über Nacht waren die Läden voll. An jede Person wurden 40,-- Deutsche Mark ausgegeben, so dass für einige Tage oder Wochen alle über die gleich hohen Barmittel verfügten.
Auch in unserer Heimat begann der wirtschaftliche Wiederaufstieg, der sich dann erstaunlich schnell vollzog und in das sog. deutsche Wirtschaftswunder Mitte bis Ende der 50er Jahre einmündete. Der geistige Neubeginn nach der nationalsozialistischen Ära ging anfangs sehr schnell und hoffnungsvoll vor sich, wobei aber die sog. Entnazifizierung nur sehr zähflüssig und auch mit vielen Ungereimtheiten sich vollzog.

(aus den Pfarrbriefen 1993-1994)


vgl. auch die Erinnerungen Peter Schlebuschs zur Evakuierungszeit