Maikäfer, häste ken Tass Kaffe doa?

von (?)
 

Mancher Ratheimerin der früheren Generation wird diese originelle Bitte um eine Tasse Kaffee noch bekannt vorkommen, und sicher erinnern sich viele Ratheimer noch an den alten Mann in der abgeschabten grauen Militärjacke, über und über mit Orden und Ehrenzeichen besteckt. Man nannte ihn schlichtweg "Jeck Dei" weil er etwas beschränkt war. Nur die wenigsten wussten, dass er eigentlich Theodor Haus hieß und aus einer guten Bürgerfamilie stammte.

Von sich selbst erzählte er in seinen kurzen, abgehackten Worten, dass er als Kind einmal Typhus gehabt habe und seitdem etwas "schauterig" im Kopf geworden sei.

Mit tappigen Schritten zog er über die holprigen Straßen. Auf dem Kopf einen verwitterten Filzhut, unter dem kleine, abstehende Ohren hervorschauten. Die blauen Augen unter buschigen Brauen blickten verloren. Sein eisgrauer Bart hatte braune Flecken vom "Mutz", der unvermeidlichen gebogenen Pfeife, die immer in seinem Munde hing.
Nie sah man ihn ohne die derben, nach oben gebogenen Schnürschuhe mit Ledergamaschen darüber bis zu den Knien.
Seine Haltung war leicht vornübergebeugt, so, als ob er eine Last trage. Meistens hatte er auch eine Säge auf dem Rücken. Damit sägte er den Leuten Brennholz klein, jedem, der es wollte, für ein Essen, etwas Kaffee, ein Nachtlager auf Heu oder Stroh oder auch für ein paar Mark. Am liebsten sägte er nachts.

Er lebte überall und nirgends und jede Frau, jedes Mädchen nannte er "Maikäfer".

Manchmal verschwand er wochenlang, um dann plötzlich einfach wieder da zu sein. Aber er gehörte zu Ratheim wie der Kirchturm und er lebte hier wie in einer großen Familie. Kein "Maikäfer" verweigerte ihm seine Tasse Kaffee.

Die letzten Jahre seines Lebens fand er ein festes Zuhause in einer gutherzigen Familie, die ihn sauber hielt, pflegte und betreute. Das ist schon lange her.

Auch heute noch gibt es solche Menschen die einsam sind, alt, auch beschränkt. Sie gehen über die Straßen, stehen an den Ecken - hier in Ratheim.

Menschen, die nur nachts in einer kargen Kammer geduldet sind.
Menschen, über die man lächelt - nachsichtig, vielleicht spöttisch.
Menschen. die sich auch über eine Tasse Kaffee, ein Glas Milch, ein Weilchen Aufenthalt in unserem Hause oder nur ein freundliches Wort freuen würden. Aber die "große Familie" gibt es nicht mehr.

Sie sind fremd - einsam.

Wer Augen hat zu sehen, der sieht sie.


(aus dem Pfarrbrief 1977/Okt.)


siehe auch den Beitrag zur Ratheimer Geschichte: Jeck Dei
 


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