Begegnung in der Metro

von SK (Sibylle Kurth?)
 

Urlaubszeit! In der Metro, der Untergrundbahn von Paris, sitzt ein deutscher Tourist! Ihm gegenüber ein Stadtstreicher, schmutzig, verkommen.
Die Fahrgäste rücken von ihm fort. Er riecht nach Armut und Alkohol. Aus der ausgebeulten Tasche seines schäbigen Mantels schaut eine geöffnete Flasche billigen Rotweins. Seine rot­geäderten Augen schauen sein Gegenüber prüfend an. Der gibt den Blick ruhig zurück.
Da beginnt der Alte ein Gespräch.

"Mich kriegen sie nicht", sagt er, "keiner weiß mich zu finden". "Wer?" fragt der Deutsche französisch. "Die Polizei! Aber glauben Sie nicht, dass ich ein Krimineller bin!"
Er zieht die Flasche aus der Tasche, will sie an de Mund setzen. Aber dann stellt er sie auf sein Knie. Er hat jemand gefunden, der ihm zuhört, er vergisst zu trinken.
Dann erzählt er: seine beiden Söhne sind im Krieg gefallen. Aus Gram darüber starb seine Frau. "Nun habe ich nichts mehr außer dem billigen Wein und den Zigarrenstummeln, die ich auf der Straße auflese. Ich schlafe unter den Brücken der Seine oder in irgendeiner Ecke. Mich kann niemand finden."

Sein Reisegefährte hört ihm teilnahmsvoll zu. Ab und zu wirft er ein gutes Wort in das Gespräch des Alten. Der schiebt ein abgekautes Zigarrenende zwischen seine Lippen und verstaut die Flasche wieder in die Manteltasche. Lange schaut er seinen Reisegefährten an. Verloren und fern blicken die Augen aus dem stoppelbärtigen Gesicht. Dann steht er langsam auf. Seine Haltestelle ist gekommen. Stumm reicht er dem Deutschen die Hand.

Ein Danke, nur für's Zuhören.
 

(aus dem Pfarrbrief 1980/2)


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