Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


Die Steinkohlenzeche Sophia-Jacoba und ihre Bedeutung für die Region

von Johannes Bürger (1997)

Am 30. Juni 1997 stellt die Steinkohlenzeche Sophia-Jacoba Hückelhoven ihre Kohleförderung ein. Damit geht die fast einhundertjährige Geschichte des Steinkohlebergbaus in dieser Gegend zu Ende. Dies ist ein Anlass zu dem Versuch, die Bedeutung von Sophia-Jacoba für die Region und die in ihr lebenden Menschen zusammenfassend darzustellen. Dabei soll die Entwicklungsgeschichte des Bergwerks nur insoweit mit einfließen, als sie für dessen Auswirkungen auf die Umgebung von Bedeutung ist. Ohnehin kann die Darstellung nicht mehr sein als ein Streiflicht auf die Entwicklung innerhalb des heutigen Kreises Heinsberg, soweit sie auf den Steinkohlebergbau zurückzuführen ist. Die Darstellung beruht auf vielen Veröffentlichungen in den Heimatkalendern von 1955 bis 1994, auf zugänglichem statistischem Material und auf eigenen Erfahrungen.


Die Entwicklung der Belegschaft

1915 hatte die Grube eine Belegschaft von 12 Männern im Untertagebetrieb – 28 insgesamt mit Angestellten -, die 317 to Kohle förderten. 1918 war die Belegschaft auf 170 angewachsen, die Förderung betrug 9.061 to. 1920 war ein besonders wichtiges Jahr für die Zeche. Die Förderung stieg auf 55.210 to und die Belegschaft erstmals auf 1.009 Personen.

In diesem Jahr kam die Zeche ganz in niederländisches Eigentum. Schon 1916 hatten sich die Honigmann-Erben entschlossen, die Zeche zu verkaufen. Dr. Fentener von Vlissingen, Direktor und Mitinhaber der Steenkolen Handelsvereniging, gründete die NEMOS, die Anteile der Gewerkschaft Hückelhoven II übernahm. 1)

("Gewerkschaft" ist eine berg­rechtliche Gesellschaftsform, deren Gesellschaftsanteile „Kuxe" heißen. Die Inhaber der Kuxe erhalten nicht nur den Gewinn, sondern sind auch bei Verlusten zur „Zubuße", d.h. Ein­zahlung verpflichtet.)

In die Gewerkschaft Hückelhoven II – so hieß die Anlage seit 1911 offiziell – wurden 1.000 Kuxe eingebracht. 1920 kaufte die NEMOS die 400 Kuxe, die bis dahin noch der Familie Honigmann gehört hatten. 1917 hatte die Zeche den Namen Sophia-Jacoba erhalten: nach Sophie, der Ehefrau Fentener von Vlissingens und Jacoba, der Frau seines Freundes J. P. de Vooys. Dieser wurde auch Vorstandsvorsitzender der neuen Gewerkschaft.

1928 bis 1930 wurde in Hückelhoven Schacht 3 abgeteuft, auf dem heute noch das traditionelle Fördergerüst als Symbol des Bergbaus steht. 1960 wurde der Schacht 4 und 1964 der Schacht 6/HK (Helmut Kranefuß, nach dem damaligen Vorstandsvorsitzenden) in Ratheim in Betrieb genommen. Architekt dieser modernen und ästhetisch einmalig schönen Türme über diesem Schacht war der bekannte Industriearchitekt Prof. Schupp.

Ab 1920 entwickelte sich die Jahresförderung und damit die Belegschaftszahl kontinuierlich. Einen starken Ein­bruch brachten allerdings die Jahre 1944 und 1945, denn Ende 1944 wurde die Bevölkerung wegen der heran­rückenden Front evakuiert. Die Kohleförderung musste eingestellt werden. Es blieb nur eine Notbelegschaft, die die Instandhaltungsarbeiten durchführte. Am 11. September 1944 hatte das Werk eine Notbelegschaft von 95 Arbeitern und 42 Angestellten [zu denen gehörte auch der Vater des Verfassers dieser Zeilen], die für die Aufrechterhaltung der Kraftwirtschaft, der Wasserhaltung und der dringendsten Reparaturarbeiten untertage gerade ausreichte. Vom 25. Februar bis zum 15. März 1945 war nur noch ein „Himmelfahrtskommando" von 11 Mann im Werk anwesend. 9 Mitglieder der Notbelegschaft sind während der Zeit, als Hückelhoven Frontgebiet war, auf dem Betriebsgelände gefallen. 2)

Unmittelbar nach Kriegsende begannen die Instandsetzungs- und Aufräumungsarbeiten, so dass 1945 von 1.219 Belegschaftsmitgliedern wieder 116.830 to Kohle gefördert werden konnten. 1959 hatte Sophia-Jacoba 5.669 Beschäftigte. Als Auswirkung der ersten Kohlenkrise in der Bundesrepublik sank die Belegschaft 1967 auf 3.957, um dann aber wieder kontinuierlich auf mehr als 5.000 im Jahre 1987 anzusteigen, als dunkle Wolken für die deutsche Steinkohle und damit auch für Sophia-Jacoba heraufzogen.

1988 betrug die Belegschaftszahl 5.488. Aber schon 1989 (aufgrund der deutlicher drohenden Krise verringerte sich die Zahl auf 4.800. Für Geschäftsleitung und Belegschaft kam dies ziemlich unverhofft. Dass man große Hoffnungen in eine gute Zukunft des Werkes gesetzt hatte, beweisen der Bau der Schächte IV und VI/HK in den sechziger Jahren sowie die kostspieligen Instandsetzungs- und Aufräumarbeiten nach dem Schwemmsandeinbruch vom 13. September 1975 und vor allem die Investitionen von mehr als 250 Millionen DM für die Vergleichmäßigungsanlage und für die neue Kohlenwäsche auf der Schachtanlage in Ratheim im Jahre 1982/83. Schon 1978 hatte man die Schachtanlage Rosenthal fertiggestellt, 1989 den Luftschacht Hoverberg. Die Ruhrkohle AG wurde 1989 Eigentümerin der Gewerkschaft Sophia-Jacoba. Nachdem durch Bundesgesetz die Gesellschaftsform der bergrechtlichen Gesellschaft abgeschafft worden war, wurde Sophia­Jacoba am 5. September 1989 in die Sophia-Jacoba GmbH umgewandelt.

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen galt die Zeche Sophia­Jacoba als das am schnellsten wachsende Unternehmen des Aachener Reviers. Es sei technischen Neuerungen gegenüber am meisten aufgeschlos­sen. Das kann auch für die Zeit nach dem 2. Weltkrieg gesagt werden. Es ist auch interessant festzustellen, dass die Ausdehnung des Grubenfeldes von Sophia-Jacoba mit 196 qkm 28 % des gesamten Aachener Steinkohlenreviers ausmacht.

Die „Pioniere" der allerersten Jahre kamen zumeist aus dem Aachener Revier, wie einige bekannte Hückelho­vener Familiennamen noch heute ausweisen. Es kamen viele Bergleute aus dem Ruhrgebiet. Ein Teil davon war dort schon länger ansässig gewesen, stammte aber ursprünglich aus Ostpreußen oder Schlesien. Noch heute zeugen davon Spuren des Ruhrgebiets-Slangs in der Sprache mancher Hückelhovener. Auch polnisch klingende Familiennamen waren und sind in Hückelhoven und Umgebung keine Seltenheit. Unter den aus dem Aachener Raum nach Sophia-Jacoba übergesiedelten Bergleuten waren auch solche, die ursprünglich aus dem Osten des deutschen Reichs stammten. Nach dem 2. Weltkrieg zogen Bergleute aus anderen Gegenden nach hier, z.B. aus Westfalen, von der Rhön, aus Bayern, dem Saarland und anderen Gebieten. Aber die Zeche Sophia-Jacoba nahm nach dem 1. Weltkrieg auch viele einheimische Arbeitnehmer auf.

Es fand hier eine enorme Veränderung der Sozialstruktur statt. Die Arbeitsplätze in der Landwirtschaft und im Kleingewerbe wie Seidenweberei, Korbflechterei, Holzschuhmacherei gingen immer mehr zurück. Da war der Broterwerb im Bergbau ein Segen für die Bevölkerung dieser Gegend, zumal die Arbeitsplätze bei der Zeche sicher waren und ein hohes Lohnniveau hatten. Früher war Hückelhoven Abwanderungsgebiet in die benachbarten Großstädte gewesen. Ab 1920 wurde es dank der Arbeitsplätze bei Sophia-Jacoba Zuwanderungsgebiet. So verdoppelte sich aufgrund der rapiden Erhöhung der Arbeitsplätze hauptsächlich die Einwohnerzahl von Ratheim von 1917 bis 1936 von 2.560 auf 5.282. Die Bevölkerungszahl von Hückelhoven selbst versechsfachte sich gar in dieser Zeit von 790 auf 5.027.

Zur Belegschaft gehörten auch – vor allem seit Kriegsbeginn, aber auch schon vorher – verhältnismäßig viele nicht-deutsche Arbeitnehmer. 1943 beschäftigte Sophia-Jacoba

Die sowjetischen Gefangenen waren in einem großen Lager am Schacht IV bei Ratheim, der damals Materialschacht war, untergebracht, die französischen im sogenannten Franzosenlager an der jetzigen Mokwastraße in Hückelhoven, das in den letzten Monaten der Naziherrschaft und des Krieges als KZ für missliebige Mitbürger diente.

Seit den sechziger Jahren warb die Zeche im Ausland wieder Arbeitskräfte an. Zunächst waren es Griechen (1963 = 263), dann Spanier (1965 = 333). Die Spanier waren hier mit ihren Familien so stark vertreten, dass z.B. die Kirchengemeinde St. Barbara in Hückelhoven für deren Kinder einen spanischen Kindergarten einrichtete. Ab 1965 kamen viele türkische Bergleute, deren Anzahl im Jahre 1974 609 betrug. Die ausländischen Mitarbeiter waren immer vorbildlich integriert.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass schon anhand der Belegschaftszahlen über mehrere Jahrzehnte die Zeche Sophia-Jacoba ein großer bedeutsamer Arbeitgeber in den Kreisen Erkelenz, Heinsberg und Geilenkirchen-Heinsberg, dem heutigen Kreis Heinsberg war, nur in einigen wenigen Jahren überflügelt von den Mitarbeiterzahlen von Enka-Glanzstoff (heute Akzo) in Heinsberg-Oberbruch. Die Belegschaftsmitglieder der Zeche wohnten 1987 in folgenden Gemeinden: 61% in der Stadt Hückelhoven, 11% in Erkelenz, 9% in Wassenberg, 8% in Heinsberg, 11% in den anderen Gemeinden und außerhalb des Kreises Heinsberg.

Die Bedeutung, die Sophia-Jacoba als Arbeitgeber für den genannten hiesigen Raum hatte, ergibt sich auch aus der Anzahl der Ausbildungsplätze in der Praxis und der vorbildlich ausgestatteten Bergbauberufsschule. Mitte der achtziger Jahre hatte Sophia-Jacoba 500 Ausbildungsplätze für Bergleute, Schlosser und Elektroanlageninstallateure. Jährlich kamen bis 200 junge Leute in die Ausbildung, die fast alle von einer Übernahmegarantie nach Abschluss ihrer Ausbildung ausgehen konnten.

Der Wohnungsbau der Zeche

Wenn auch viele Einheimische „zur Zeche gingen", wie es im Jargon heißt, kamen doch die meisten Mitarbeiter von auswärts. Deshalb trachtete die Bergwerksgesellschaft schon früh, für ihre Belegschaftsmitglieder Wohnungen zu günstigen Bedingen zu schaffen. Damit war auch die Absicht verbunden, die Beschäftigten mit ihren Familien an das Werk zu binden. Träger des Baus von Bergarbeiterwohnungen waren

Trotz dieser Organisationsvielfalt lassen die frühen Bergmannssiedlungen eine einheitliche Konzeption erkennen, da sie alle von dem bekannten Schweizer Architekten Emil Emmanuel Strasser geplant wurden. So entstanden 1920 in unmittelbarer Nähe der Werksanlagen die Bergmannswohnungen auf dem Hansberg (heute Mokwastraße), an der Sophiastraße und am Friedrichplatz, von 1925 bis 1928 die Siedlungen In der Schlee, an der von-Dechen­Straße, Graf-Beust-Straße, Brassert­ und Bauerstraße. Auch die zwischen 1921 und 1925 entstandene Schaufenberger Siedlung lässt den einheitlichen Stil erkennen. Nach Strassers Vorstellungen waren die Bauensembles auf die Bedürfnisse der Bergarbeiterfamilien zugeschnitten.

Das Ortsbild von Hückelhoven veränderte sich damals entscheidend, zumal der gesamte Bereich zwischen der alten Ortslage und Schaufenberg bis 1920 ein unbebauter „Sandberg" war. Die Strasser'schen Siedlungen waren reich durchgrünt. Jeder Bergmann sollte einen Hausgarten haben für den Ausgleich von seiner schweren Arbeit und auch Kleinviehställe für Ziegen ('Bergmannskuh'), Brieftauben und Kaninchen. Nach Konzeption und Ausführung war dieser Siedlungsbau in der damaligen Zeit vorbildhaft. Deshalb hat die Stadt Hückelhoven sechs dieser Straßenzüge in Hückelhoven und drei weitere in Schaufenberg mit Unterstützung durch den Landeskonservator 1987 unter Denkmalschutz gestellt.

Noch in der Vorkriegszeit entstand zwischen 1930 und 1932 eine weitere Bergarbeitersiedlung in Ratheim­Busch. Nach dem Krieg stieg der Wohnbedarf wegen der steigenden Belegschaftszahlen, verbunden mit Zuzügen von außerhalb, aber auch wegen gestiegener Wohnbedürfnisse wieder stark an. Dem entsprachen Sophia-Jacoba und die genannten Baugesellschaften, indem sie 1952 bis 1954 die große Siedlung mit 468 Wohneinheiten in Hilfarth verwirklichten. Es folgten 1956/57 die Siedlung Am Wadenberg, 1958 Im Bammich in Ratheim mit 183 Wohnungen und 1959 die Bergmannssiedlung in Gerderath mit 250 Wohnungen. Nicht aufgeführt werden können die vielen Bergmannshäuser, die als Verdichtungen der Siedlungsgebiete in diesen Jahren errichtet worden sind. Erwähnt werden soll hier aber noch die so genannte Feierabendsiedlung für pensionierte Bergleute und Bergmannswitwen in Wassenberg.

1958 verfügte Sophia-Jacoba über insgesamt 2814 Wohnungseinheiten für Bergleute. Davon waren 1800 nach 1945 entstanden. Nach Angaben des ehemaligen kaufmännischen Vorstandsmitglieds von Sophia-Jacoba und Geschäftsführers der Bergmannswohnungsbau GmbH, Dr. H. D. Russell, hat letztere von 1948 bis 1957 rund 25 Millionen DM für diesen Wohnungsbau ausgegeben und damit ebensoviel wie für die in der gleichen Zeit akti­vierten betrieblichen Investitionen. 3) Seit einiger Zeit werden den Bergleuten die Häuser, die sie bewohnen, zum Kauf angeboten. Viele Belegschaftsmitglieder haben diese Möglichkeit des Eigentumserwerbs inzwischen genutzt. 1995 verfügten die Zeche und die beiden Wohnungsbaugesellschaften noch über 2400 Wohnungseinheiten.

Einflüsse auf Siedlungs- und Bevölkerungsstruktur

Direkt und indirekt hatte der Bergmannswohnungsbau über Jahrzehnte erheblichen Einfluss auf die Siedlungs­ und Bevölkerungsstruktur von Hückelhoven und Umgebung.

Am deutlichsten zeigten sich die Veränderungen in Schaufenberg. Der kleine, von Bruchland umgebene und zur ehemaligen Gemeinde Ratheim gehörende Ort zählte 1910 nur 108 Einwohner. Die Kinder besuchten die einklassige Schule in Millich, und der Kirchweg war rund vier Kilometer weit. Die Bewohner waren überwiegend Kleinlandwirte; im Ort gab es ein Lebens­mittelgeschäft. Nach dem Bau der Schaufenberger Siedlung 1922 stieg die Einwohnerzahl rasch an und erreichte 1960 rund 1480. 1926 wurde in einer Scheune eine katholische Notkirche eingerichtet. Im gleichen Jahr ließ die Gemeinde Ratheim in Schaufenberg eine neue Schule für die einheimischen und die Millicher Kinder bauen. 1956 wurde im Ort eine neue katholische und drei Jahre später auch eine evangelische Kirche gebaut. Seit den zwanziger Jahren entstanden in Schaufenberg Geschäfte, Handwerksbetriebe, Gaststätten und eine Poststelle. Der Ort zählt heute 1340 Einwohner.

Auch in dem bis zu Beginn des Jahrhunderts kleinen bäuerlichen Ratheimer Ortsteil Busch setzten nach der Errichtung der ersten Bergmannssiedlung im Jahre 1932 starke Veränderungen ein, so dass ein fast autarker neuer Ortsteil entstand. Die 'alte' Siedlung nördlich der Bahnstrecke wurde in einem Bereich gebaut, in dem bis dahin kein einziges Haus stand. 1952 bis 1958 kamen weitere zweigeschossige Häuser hinzu, und 1959 entstand auf von der damaligen Gemeinde Hückelhoven­Ratheim erworbenem Gelände die Siedlung 'Im Bammich' der Bergmannswohnungsbau GmbH. Im gesamten Siedlungsbereich Ratheim-Busch wohnten 1987 etwa 2300 Menschen, ganz überwiegend Bergarbeiterfamilien. Die katholische Kirchengemeinde Ratheim baute 1971/72 mitten im Wohnbereich ein Mehrzweckgebäude, das „Haus der Begegnung". Damit erhielt der Ortsteil einen kulturellen und kirchlichen Mittelpunkt. War die Buscher Siedlung vor dem Krieg ein Fremdkörper, wuchsen die Bewohner nun zu einer Gemeinschaft zusammen. Neben dem Haus der Begegnung ließ die Kirchengemeinde einen zweiten Pfarrkindergarten errichten, den die Stadt Hückelhoven 1991/92 um vier Gruppenräume erweiterte. Das rege Gemeinschaftsleben führte zur Gründung der Interessengemeinschaft Ratheim Busch und Bammich, die u.a. jährlich Siedler- und sonstige Feste ausrichtet.

Bis nach dem letzten Krieg war Hilfarth ein bäuerlich und kleingewerblich geprägter Ort, in dem das Korbflech­terhandwerk und der Korbwarenhandel dominierten. Sie trugen zu einem gewissen Wohlstand der Einwohner bei. 1871 hatte Hilfarth 1151 Einwohner, 1950 waren es rund 2000. Als das Korbmacherhandwerk in den fünfziger Jahren seinen großen Einbruch erlebte, verloren viele Hilfarther ihre Existenz. Unmittelbar südlich der alten Hilfarther Ortslage entstanden dann zwischen 1952 und 1954 auf einem früher sumpfigen und inzwischen trockengelegten Gelände 468 Bergmannswohnungen. Dieses Projekt der Bergmannswohnungsbau GmbH kam auf Anregungen des damaligen Hückelhovener Bürgermeisters Wilhelm Claßen aus Hilfarth zustande. Mitten in der Siedlung entstand ein eigenes Geschäftsviertel zur Sicherung des täglichen Bedarfs. Die Einwohnerzahl von Hilfarth hatte sich durch den Siedlungsbau nahezu verdoppelt. Ende 1995 betrug sie 4000. Nach dem Bezug der Siedlung stieg insbesondere die evangelische Bevölkerung stark an. Dem entsprach die evangelische Gemeinde Hückelhoven 1967 durch die Errichtung einer Kirche. Die Gemeinde Hückelhoven-Ratheim ließ 1953/54 eine neue katholische und 1961 eine evangelische Schule bauen.

In keinem Ort des heutigen Stadtgebietes sind die Veränderungen im Zusammenhang mit der Zeche Sophia­Jacoba so augenfällig wie in Hückelhoven selbst, dem Sitz der ursprünglichen Betriebsstätte und der ersten drei Schächte. Hier entstand 1922 in unmittelbarer Nähe des Werkgeländes auf dem 'Hansberg' auch die erste Zechensiedlung. Diese Bautätigkeit fand erst 1958 mit der Bebauung des Südhangs am Wadenberg einen gewissen Abschluss. Noch 1918 wohnten in Hückelhoven nur 790 Menschen, 1935 waren es es bereits mehr als 5000 und Ende 1995 dann 9470. Diese Zahlen spiegeln anschaulich die siedlungs­strukturelle Entwicklung innerhalb des Ortes wieder.
Der Anstieg der Bevölkerungszahl veranlaßte die kirchlichen Stellen schon 1933, neben der alten Pfarre St. Lambertus, die neue katholische Rektoratsgemeinde St. Barbara zu gründen, deren weiße Kirche auf dem Wadenberg weit über das Rurtal hinweg sichtbar und neben den Fördertürmen so etwas wie das Symbol des Bergbaus in Hückelhoven geworden ist. Hier wirkte von 1960 bis 1994 auch der „Bergmannspastor" Josef Derichs, der zusammen mit seinem evangelischen Amtsbruder Pastor Wolfgang Döring den geistlichen Mittelpunkt des Widerstandes gegen die Schließung der Zeche bildete.
Die örtliche Infrastruktur hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verbessert und der Bevölkerungsentwicklung angepasst. Hervorzuheben sind hier

Zahlreiche attraktive Einzelhandelsgeschäfte entstanden vor allem konzentriert an der Parkhofstraße.

Die wirtschaftliche Bedeutung der Zeche

Wenn auch die wirtschaftliche Bedeutung der Zeche für Hückelhoven und die Umgebung nur schwer abzu­schätzen ist, vermitteln doch einige Daten eine gewisse Vorstellung. Am bedeutendsten war Sophia-Jacoba wohl immer als Arbeitgeber. Wenn man für eine Bergmannsfamilie im Durchschnitt vier Personen zugrunde legt, dann fanden mehr als 20000 Menschen bei der Zeche ihre wirtschaftliche Existenz.

Einer Studie der Stadtverwaltung Hückelhoven von 1989 4) ist zu entnehmen, dass bei der Zeche jährlich 225 Millionen DM an Löhnen und Gehältern der Mitarbeiter verdient wurden, bei einer Nettolohnsumme von 155 Millionen DM. Das ist mehr als ein Viertel der Lohnsumme der Industrie im Kreis Heinsberg (1986: 800 Millionen DM). Entsprechend dem Anteil an der Gesamtbelegschaft wurden 96 Millionen DM an Mitarbeiter ausgezahlt, die innerhalb der Stadt Hückelhoven wohnen, was einem Anteil von 61% an der Nettolohnsumme entspricht. 16,5 Millionen wurden an Mitarbeiter aus dem Stadtgebiet Erkelenz, 14,5 Millionen an solche aus dem Stadtgebiet Wassenberg und 11 Millionen an die aus dem Stadtgebiet Heinsberg ausgezahlt.

Der größte Teil dieser Lohnsummen – man spricht von 80% – fließt als Kaufkraft der heimischen mittelständi­schen Wirtschaft, dem Einzelhandel, dem Handwerk und dem Dienstleistungsgewerbe zu. Alleine darin wird die Bedeutung von Sophia-Jacoba für die heimische Wirtschaft unübersehbar deutlich. Jeder dritte Erwerbstätige in der Stadt Hückelhoven und jede vierte im Kreis Heinsberg war 1986 bei Sophia-Jacoba tätig. Ein wichtiges Indiz für die wirtschaftliche Bedeutung ist es auch, wenn 1986 rund 400 mittelständische Firmen im Kreis Heinsberg mit Sophia-Jacoba in regelmäßigen Geschäftsbeziehungen standen. Etwa 83% der 285 Millionen DM, für die die Zeche 1986 Aufträge vergab, entfielen auf Firmen, die im Kreisgebiet oder dessen unmittelbarer Umgebung ansässig waren. Im gleichen Jahr vergab die Zeche an 149 in der Stadt Hückelhoven ansässige Firmen Aufträge in Höhe von mehr als 52 Millionen DM. Das sind rund 350.000 DM je Betrieb: Schlosser-, Elektro- und Schreinereibetriebe, Maler- und Anstreicherbetriebe, Gärtnereien und Druckereien. Von 1976 bis 1986 hat die Hückelhovener Zeche 520 Millionen DM investiert, mehr als ein Drittel aller Investitionen im Kreisgebiet (1,5 Milliarden).

Auswirkungen auf die kommunalen Grenzen

Die durch den Steinkohlenbergbau in Hückelhoven und Umgebung ausgelösten Veränderungen konnten auf die Grenzen der Gemeinden nicht ohne Auswirkungen bleiben. So war die Neugliederung von 1932 zwar zunächst ein Reformvorhaben Preußens, dessen Verwaltungsstrukturen noch aus dem 19. Jahrhundert stammten 5), für die heimische kommunale Ebene spielten dabei aber auch die hier eingetretenen sozialen und wirtschaftlichen Veränderungen eine Rolle. Bei der damaligen Kreisreform kamen Hilfarth (ohne die Gemeinde Porselen) und Ratheim an den Kreis Erkelenz, zu dem Hückelhoven selbst seit dessen Bestehen gehört hatte. Für die Ratheimer und Hilfarther Bevölkerung war damit eine erhebliche Umstellung verbunden, war sie doch bis dahin nach Heinsberg orientiert, insbesondere soweit es die ärztliche Versorgung, Krankenhaus und Gerichtswesen betraf. Auch für den Einkauf war man auf Heinsberg ausgerichtet. Zu Erkelenz hatten die Hilfarther und Ratheimer Einwohner bis dahin kaum Beziehungen.

Für Hückelhoven zeigte sich schon bald nach 1932, dass die Kreisreform nur der Anfang einer tiefer gehenden Neuregelung der kommunalen Grenzen sein konnte, da dieser Raum immer stärker durch die Zeche geprägt wurde. Die Verwaltung von Sophia-Jacoba musste sowohl mit der Amtsverwaltung Doveren verhandeln, zu der Hückelhoven selbst gehörte, als auch mit den Gemeindeverwaltungen Ratheim, Hilfarth und Kleingladbach. Hier wohnten die meisten Mitarbeiter der Zeche. Durch Erlass des Oberpräsidenten der Rheinprovinz vom 1. Oktober 1935 wurde dann die amtsfreie Gemeinde Hückelhoven gebildet, die Ämter Doveren und Kleingladbach wurden aufgelöst. Die zu diesen Ämtern gehörenden Gemeinden Hückelhoven und Kleingladbach sowie die amtsfreien Gemeinden Ratheim (mit Schaufenberg und Millich) und Hilfarth schloss man zu der neuen Gemeinde um die Fördertürme der Gewerkschaft Sophia-Jacoba zusammen. Der Name der neuen Gemeinde war Hückelhoven. Damit konnte man sich in Ratheim lange nicht abfinden.
Nach der Auflösung des Amtes Doveren entstand 1935 auch das Amt Baal, in dem Doveren nun neben Baal, Lövenich, Granterath, Hetzerath und Rurich eine Gemeinde bildete. Rurich hatte bis dahin zum Amt Körrenzig im Kreis Jülich gehört.

Bei ihrer Bildung zählte die neue Gemeinde 13 530 Einwohner. Sie wurde 1952 durch Ratsbeschluss in Hückelhoven-Ratheim umbenannt und erhielt 1969 durch die Landesregierung das Recht, sich Stadt zu nennen.
Auf den Doppelnamen musste die Stadt bei der jüngsten kommunalen Gebietsreform, die zum 1. Januar 1972 in Kraft trat, wieder verzichten. Damals wurde die Stadt Hückelhoven nach dem so genannten Aachen-Gesetz um die Gemeinde Brachelen, die Gemeinden Baal, Doveren, Rurich und den Ort Altmyhl der Gemeinde Myhl, bei dem inzwischen die moderne Schachtanlage der Zeche entstanden war, vergrößert. 1973 hatte sie 34.320 Einwohner (1995: 37.450). Strukturell wirkte sich die Neugliederung überwiegend positiv aus. Dafür sei hier nur auf das große neue Gewerbegebiet Baal und ein weiteres bei Brachelen sowie auf das inzwischen voll ausgebaute Stadtzentrum hingewiesen.

Das Ende der Kohleförderung am 30. Juni 1997 ist für die noch rund 2800 Belegschaftsmitglieder von Sophia­Jacoba, aber auch für das mittelständische Gewerbe dieses Raumes, für die Stadt Hückelhoven und den Kreis Heinsberg ein tiefer Einschnitt. Der Region hat der Bergbau überwiegend Vorteile gebracht, auch wenn er mit einigen Nachteilen verbunden war wie die Bergschäden, die Landschaftsveränderungen und eine durch die langjährige Monostruktur bedingte einseitige Bindung von Fach-Arbeitskräften. Kreis, Städten und Gemeinden als Betroffenen bleibt die vorrangige Aufgabe, optimale Voraussetzungen für das Entstehen neuer Arbeitsplätze zu schaffen.

Quellen:
1) A. Kranefuss: Friedrich Honigmann und die Entstehung von Sophia-Jacoba; Heimatkalender des Kreises Erkelenz 1975, S. 25 ff.
2) C. Koch: Die Notbelegschaft von Sophia-Jacoba in ihrer Bewährung; Heimatkalender der Erkelenzer Lande 1959, S. 159 ff.
3) H. D. Russell: Der Bergarbeiterwohnungsbau im Kreise Erkelenz; Heimatkalender der Erkelenzer Lande 1959, S. 121 ff.
4) „Gedanken zur Wirtschaftsstruktur der Stadt Hückelhoven unter besonderer Berücksichtigung der Gewerkschaft Sophia-Jacoba; Stadtverwaltung Hückelhoven 1989.
5) Geschichtswerk der Stadt Hückelhoven; unveröffentlichtes Manuskript von Wolfgang Herborn (Universität Bonn 1990).


Mit Erlaubnis des Autors entnommen aus:
Bürger, J. (1997): Die Steinkohlenzeche Sophia-Jacoba und ihre Bedeutung für die Region. - in: Kreis Heinsberg (Hrsg.): Heimatkalender des Kreises Heinsberg, S. 177ff