Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


Die Entwicklung der Schuhmacherei in Ratheim

von Johannes Bürger, mit Bildern und Ergänzungen von Helmut Winkens
 

Mehr als ein halbes Jahrhundert waren die Orte Ratheim, Dremmen und Porselen von Schuhmacherei geprägt.
Schon vor der Jahrhundertwende gab es in Ratheim eine Anzahl von Schuhmachern, die neue Schuhe herstellten, aber auch als so genannte Flickschuster tätig waren. Dies geschah ausschließlich in Handarbeit.

Ein Schuhmacher konnte damals in 10stündiger täglicher Arbeit zwei Paar neue Schuhe herstellen. Erwähnenswert ist noch, dass auch die Kinder der Schuhmacher zuhause mitarbeiten mussten. So wurde Heinrich Trebbels mit 13 Jahren vorzeitig aus der Schule entlassen, um seinen Vater zuhause bei der Schuhmacherei unterstützen zu können.

Aber es wurden überhaupt nur wenige neue Lederschuhe hergestellt, da die Leute hier fast ausschließlich Holzschuhe trugen, die auch in Ratheim angefertigt wurden. Sogar zum sonntäglichen Kirchgang wurden besonders schöne schwarz angestrichene, kunstvoll gefertigte Holzschuhe getragen.

Photo: Schuhfabrik Winkens, Meister Rütten
Schuhfabrik Winkens, 1912
Meister Rütten ("Binze Dicke")
Bildquelle: Photo im Besitz
von Helmut Winkens

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Die erste kleine Schuhfabrik in Ratheim wurde 1905 * von dem Schuhmacher Karl Heinrichs auf der Schmitterstraße betrieben, und zwar in einem Hintergebäude des heutigen Hauses Schippers, das dort jetzt noch steht. Das war zu einer Zeit, als es in unserer Gegend noch keinen Strom gab. An Maschinen waren vorhanden: Lederstanzen und Steppmaschinen, die mit den Füßen bedient und über einen Transmissionsriemen zum Laufen gebracht wurden. Eine weitere kleine Schuhfabrik, wurde um die Jahrhundertwende in dem Haus Zerkaulen auf dem Ratheimer Markt eingerichtet. Im Hause Zerkaulen war auch das erste Schuhgeschäft in Ratheim. Um 1910 kam die Stromversorgung nach Ratheim. Damals entstanden dann hier auch noch weitere Schuhfabrikationsbetriebe, in denen aber nur die Schuhsohlen und die Hinterkanten gestanzt und die Schäfte gesteppt wurden. Alles Weitere machten dann nach wie vor die Hausschuster in ihren heimischen Werkstätten. Es wurden aber zunächst nur Arbeitsschuhe hergestellt.

Stich: Schuhfabrik Winkens, Ratheim
Schuhfabrik Winkens
1920er Jahre
Bildquelle: Stich im Besitz
von Wilfried Winkens

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Vor der Heranführung von elektrischem Strom nach Ratheim wurde aber schon in der Schuhfabrik Friedrich Winkens — nachmals Peter Kleinen — (Vennstraße), Schuhfabrikation mit dampfangetriebenen Maschinen betrieben. Um 1910 entstanden dann auch die Schuhfabriken Wilhelm Reiners (Mühlenstraße), Schafhausen, (Garsbeck), Peter-Heinrich Jansen (Petter Heng, Ratheim-Busch), Heinrich Schneiders (Ratheim-Busch) und Wilhelm Schneiders (Ratheim-Busch).

Der Grundstock der heutigen Schuhfabrik Gebrüder Trebbels wurde um 1895 von deren Vater Jakob Trebbels als Hand-Schuhmacherei in einem kleinen Haus am heutigen Schieferpley und ab 1904 auf der Kirchstraße gegründet.

Photo: Schuhfabrik Winkens, Kesselraum
Schuhfabrik Winkens, 1912
Kesselraum mit Heizer Böken
Bildquelle: Photo im Besitz
von Helmut Winkens

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Die um 1910 entstandenen Ratheimer Schuhfabriken erweiterten nach dem ersten Weltkrieg ihre Kapazität erheblich. Sie arbeiteten für größere Industriebetriebe am Rhein und im Ruhrgebiet, aber auch für Einzelhändler in den Großstädten. Auch auf dem Wochenmarkt in Hückelhoven, der damals nach Bau der Bergmannssiedlungen in Hückelhoven als Lohntagemarkt alle 10 Tage auf dem Friedrichplatz stattfand, verkauften sie ihre Schuhe. Die Familienangehörigen der Inhaber der Schuhfabriken brachten die Schuhe mit Handwagen nach Hückelhoven und verkauften sie dort selbst. Die Schuhe wurden zum Preise von 11,00 DM je Paar, die Arbeitsschuhe für 5,00 DM je Paar abgesetzt. Die Herren Trebbels berichten, dass sie ihre Fabrikate mit dem Fahrrad zu den Wochenmärkten in die Bergmannsorte Baesweiler und Palenberg gebracht haben. 20 Paar Schuhe wurden auf jedem Fahrrad transportiert.

1924 * wurde die Schuhfabrik Peter Kleinen auf der Vennstraße in Ratheim gegründet, die in das Gebäude der früheren Fabrik Friedrich Winkens einzog. Ende 30er Jahre bezog die Firma Wilhelm Schneiders die neuen
Fabrikgebäude in Ratheim (Millicher Straße).

Photo: Schuhfabrik Schneiders, Eröffnung 1939
Schuhfabrik Schneiders
Einweihung 1939
Bildquelle: Photo im Besitz
von Paul Knippertz

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Diese beiden Betriebe waren 1939 zu den größten Schuhfabriken in Ratheim herangewachsen. Zu dieser Zeit stand die Schuhindustrie in Ratheim in voller Blüte. Die Firma Kleinen beschäftigte z.B. damals etwa 200 Arbeiter, die täglich 1000 Paar Schuhe produzierten. Die Firma Schneiders hatte eine ähnliche Größe. Aber auch die anderen Ratheimer Betriebe beschäftigten zwischen 5, 20 und 150 Mitarbeiter.

In den Blütezeiten der Ratheimer Schuhindustrie vor dem zweiten Weltkrieg, während des Krieges und in den Jahren 1949 - 1952 hatten die Ratheimer Schuhfabriken insgesamt ca. 600 Mitarbeiter in 6 Betrieben (Kleinen, Schneiders, Jansen, Schafhausen, Trebbels, Reiners).
Alle Arten von Schuhwerk wurden damals in Ratheim hergestellt: Militärschuhe, Arbeits­schuhe, Damen- und Herrenschuhe und auch Kinderschuhe. Damit war die Schuhindustrie für Ratheim ein wichtiger Industrie- und Erwerbszweig. Viele Jungen und Mädchen fanden unmittelbar nach ihrer Volksschulzeit einen Arbeitsplatz in einem der Betriebe. Das Lohnniveau war allerdings nicht besonders hoch. Viele von ihnen qualifizierten sich aber im Laufe der Zeit zu Facharbeitern, zu Meistern oder sogar zum Betriebsleiter.

Photo: Schuhfabrik Jansen, Belegschaft 1955
Schuhfabrik Jansen
("PetterHenge")
Belegschaft ca. 1955
Bildquelle: Photo im Besitz
von Paul Knippertz

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Ich erinnere mich an Gespräche mit Betriebsinhabern und Betriebsleitern in Schuhfabriken in den Jahren 1950/51 über die Frage, ob man nicht in Ratheim eine Schuh-Fachschule einrichten sollte. Das ist damals leider daran gescheitert, dass sich die Schuhfabrikanten nicht über die Kosten für eine solche Einrichtung einigen konnten. Ich weiß noch, dass es damals hieß: Vielleicht kann Ratheim einmal ein zweites Pirmasens werden.

Ab 1952 ging es dann mit der Schuhindustrie in Ratheim rapide zurück. Insider sagen, dieser Rückgang habe eine Reihe von Gründen gehabt, vor allem seien das die dann eingetretene Marktsättigung, sowie der Betrieb von Mammutschuhfabriken im Ausland, vor allen Dingen in Italien, in Jugoslawien und in der CSSR gewesen, die zu viel günstigeren Preisen produzieren und absetzen konnten.

Die frühere Schuhfabrik Kleinen, die sich in den 70er Jahren ganz auf die Produktion von Sicherheitsschuhen umgestellt hatte, ist 1974 als Firma Lupos von Ratheim wegen Bergbauschäden in das Industrie- und Gewerbegebiet Hückelhoven (Rheinstraße) umgesiedelt. In Ratheim selbst bestehen nur noch drei kleinere Schuhfabriken mit etwa 70 Mitarbeitern. Es ist bemerkenswert, dass die Gebrüder Trebbels im hohen Alter heute noch Sicherheits- und Arbeitsschuhe in ihrem Betrieb in der Kirchstraße in Ratheim produzieren, die sie hauptsächlich über Vertreter in Luxemburg und in den Gebieten an der Mosel verkaufen. Interessant und gleichzeitig beklagenswert ist, wie ein einstmals blühender Gewerbezweig innerhalb der Stadt Hückelhoven fast ganz zum Erliegen gekommen ist. Die in den Ratheimer Schuhfabriken Beschäftigten mussten sich andere Arbeitsplätze bei der Gewerkschaft Sophia-Jacoba, bei ENKA — und die Frauen in Textilbetrieben — suchen. Das war für manche, vor allen Dingen für ältere Leute, sehr schwer. Andererseits ist dies aber auch ein Beweis dafür, wie sich auch in unserer Heimat tüchtige Handwerker auf neue Situationen eingestellt haben, indem sie ihre Hand-Schustereien auf Fabrikationsbetriebe umstellten, die teilweise eine beachtliche Größe erreichten.

Diese Darstellung beruht auf eingesehenen Dokumenten, auf eigener Kenntnis und auf Gesprächen mit den Herren Heinrich und Johann Trebbels, die im Alter von 83 und 79 Jahren heute noch in ihrer Schuhfabrik in Ratheim (Kirchstraße) aktiv tätig sind.

 

Mit Erlaubnis des Autors entnommen aus:
Bürger, J. (1990): Die Entwicklung der Schuhmacherei in Ratheim. - in: Kreis Heinsberg (Hrsg.): Heimatkalender des Kreises Heinsberg, S. 197ff


* Ergänzungen von Helmut Winkens (aus der Geschichte der Familie Winkens)

Photo: Friedrich Wilhelm Winkens, 1912
Friedrich Winkens 1912
Bildquelle: Photo im Besitz
von Helmut Winkens
 

Mein Urgroßvater Friedrich Winkens (1844-1930) hatte - wie bereits sein Vater und sein Großvater - das Schuhmacherhandwerk gelernt. Ab ca. 1865 betrieb er auf der Mühlenstraße 5 im Haus des Bauern Thöneßen eine Schusterwerkstatt. Mit seinem Bruder zusammen brachte er in dieser Zeit mit Schubkarre und Rucksack Schuhe zu den Märkten, z.B. nach Linnich und sogar bis nach Neuss.

Im Haus neben der Werkstatt hatte Peter Josef Palenberg seinen "Winkel" (=Laden), wo Friedrich seine spätere Frau Amalia kennen lernte.
(Morgendlicher Weckruf bei den Palenbergs: "Luise, Malchen - opstonn! Dä Fritz es al ant kloppe!")

Um 1876 gründete er die "Schuhfabrik Winkens", die erste dampfbetriebene Schuhfabrik des Bezirks Aachen  (damals Vennstr. 105). Das Grundstück, der heutige "Venner Hof", ist wohl als Mitgift aus dem Besitz der Familie Palenberg übernommen worden.

Karte: Schuhfabrik Winkens, Ratheim
Schuhfabrik Winkens
1920er Jahre
Bildquelle: Karte im Besitz
von Heinz-Willi Schorn

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Die manchmal anzutreffende Angabe des Gründungsdatums mit "1872" beruht offenbar auf der von meinem Großvater Peter Winkens in den 1920er Jahren kreierten Postkarte (s. Abb.). Für diese Angabe gibt es aber derzeit keinen weiteren Beleg und sie erscheint mir auch nicht plausibel, da Friedrich in seiner Heiratsurkunde 1876 noch als "Schuster" und nicht als "Schuhfabrikant" bezeichnet wird (dies dann erst in den Folgejahren bei der Geburt seiner Kinder).

Mein Großvater Peter Winkens übernahm 1922 die Schuhfabrik. Die Weltwirtschaftskrise in den 1920er Jahren und zusätzliche widrige Umstände zwangen ihn dann im Jahre 1929, die seit über 50 Jahren in Familienbesitz befindliche Fabrik an die Schuhmacherfamilie Peter Kleinen aus Dremmen zu verkaufen.