Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


 

Zur mittleren und jüngeren Geschichte der Pfarrkirche und Pfarrgemeinde zu Ratheim

von Peter Knippertz
 

In der Mitte des 15. Jahrhunderts (1450/60) wurde die alte Saalkirche abgebrochen. Reste der Nordmauer und des Turmes blieben bis zu einer Höhe von ca. 1,60 m stehen (dies zeigte sich deutlich bei den Umbauarbeiten 1972/73). Auf diese Reste wurde die Kirche, erweitert um das südliche Seitenschiff, neu aufgebaut.

Obwohl in einem Gewölbeschlußstein des südlichen Seitenschiffes das Wappen der Familie von Olmissen gen. Mülstroe 1) angebracht ist, erscheint es sehr fraglich, daß diese Familie mit dieser Erweiterung zu tun hatte. Denn erst 1507 kommt sie in den Besitz von Haus Hall und wird 1510 durch Werner von Palant, Drost zu Wassenberg, damit belehnt. Den Herren von Olmissen hatten die Grafen von Winkelhausen die Hälfte des Zehnts abgetreten; dafür sollten diese den Kirchenraum vergrößern.

Anfang des 16. Jahrhunderts wurde ein neues Chor gebaut, das so groß wie das Mittelschiff war. Vielleicht ist damals oder aber bei späte­ren Renovierungsarbeiten das oben genannte Wappen angebracht worden. 1560 wird in Ratheim der Send 2) gehalten. Um 1700 wird die Gruft gebaut worden sein 3), die 1972 bei der Erweiterung der Kirche entdeckt wurde. 1721 kam Adolf Josef Beeck als Pastor nach Ratheim. Er fand die Kirche in einem verwahrlosten Zustand; „einem Rauchfang gleich" war sie seit langen Jahren nicht mehr geweißt worden. (Man muß daran denken, daß die Beleuchtung der Kirche mittels Kerzen und Petroleumlampen erfolgte.) Daß auch andere Reparaturarbeiten nicht ausgeführt wurden, lag daran, daß die Zehntherren ihre Pflichten gegenüber der Kirche vernachlässigten.

Um 1750 wurde das Turmdach baufällig und drohte mit einem Teil des Mauerwerkes, das sich bereits herausgesetzt hatte, herabzustür­zen. Der Amtmann Freiherr von Hövel zu Was­senberg ordnete eine Ortsbesichtigung an und verfügte, daß von den vereinigten Werkver­ständigen ein Kostenvoranschlag anzufertigen sei. Die Sachverständigen taxierten die Kosten auf 1812 Taler, 28 Albus 4) und 8 Heller, sie sollten auf alle Gemeindemitglieder umgelegt werden.

Diese letzte Tatsache erklärt sich aus der Bedeutung des Kirchturmes in früheren Zeiten. Bei Gefahr war er eine Zufluchtsstätte für alle Ratheimer, und zwar ungeachtet ihrer Konfession (das war damals nicht selbstverständlich!) Auch bedienten sich Katholiken und Reformierte gleichermaßen der Sturmglocke bei Feuersbrünsten. Bei Gefahr wurde auf dem Kirchturm Nachtwache gehalten, um Angriffe von Räubern durch Läuten der Sturmglocke abzuwehren, (so geschehen am 16. Oktober 1722).

Besonders zwei „Kirchturmereignisse" sind interessant: Der Sohn eines Reformierten, er hieß Johann Winkens, war von fremden Werbern mit Gewalt weggeführt worden. Da lief der Vater zur Kirche, läutete während des Hochamtes die Sturmglocke, verfolgte zusammen mit Katholiken die Werber und befreite seinen Sohn aus ihren Händen. 5)

Als die Mersener Räuber 1796 in der Nacht vom 29. zum 30. August das Haus des Kaufmanns Johann Peter Blanke in Hückelhoven überfielen, war auch die Ratheimer Sturmglocke neben einigen Nachtwächtern unter den Alarm­schlagenden. 6)

Trotz guter Zusammenarbeit in Zeiten der Gefahr kam es zwischen Katholiken und Reformierten zu einem Streit, weil letztere sich nicht an den Kosten beteiligen wollten; sie argumentierten, es handele sich um einen Neubau und nicht um eine Renovierung, weil Mauerwerk und Dachstuhl höher gebaut würden als früher. 7) Der Kirchturmstreit endete mit einem Prozeß, der am 6. Mai 1756 zu Gunsten der Katholiken ausging. Der Turm wurde also auf gemeinsamen Kosten beinahe noch einmal so hoch wie der alte errichtet. Baumeister war Herr Soiron aus Maastricht.

1832 wurde die Kirche durch ein Unwetter stark beschädigt; die Reparaturen kosteten 1867 Taler. 8)

1835 wurde ein neues Pfarrhaus gebaut, welches das von 1618 ersetzte; es kostete 1745 Taler, 14 Stüber 9) und 8 Pfennige. (Dieses Pfarrhaus stand bis 1971; da machten die sehr starken Einwirkungen durch Bergschäden seinen Abbruch nötig.)

Als Ende 1852 Pastor Drouven nach Ratheim kam, fand er die Kirche im Verhältnis zur Einwohnerzahl zu klein. 10) In einer Kirchenratssitzung im April 1854 beschlossen die Kirchenratsmitglieder, auf Privatkosten einen Ziegelofen herzustellen, wozu ein Stück Kirchenland bereitgestellt wurde. Die Steine aus diesem Feldofen wurden mit bedeutendem Gewinn in den folgenden Jahren verkauft. Auch wurden Kirchenkollekten für den Erweiterungsbau abge­halten, so daß man 1858 bereits über 1000 Reichstaler verfügte. Der Architekt Schmitz aus Köln, seinerzeit Dombaumeister in Wien, wurde mit den Planungen beauftragt.

An die alte Kirche wurden ein neues Querschiff und eine neue Choranlage angebaut. Bei diesem Umbau wurde das Gewölbe des Mittelschiffes höher gelegt, um es dem neuen Querschiff anzupassen. (Hierfür wurden erstmalig Schwemmsteine verwendet, die bei früheren Umbauten nicht bekannt waren; dies zeigte sich bei der Renovierung des Dachstuhls 1973.)

Der Grundstein für diesen Um- und Erweiterungsbau wurde am 2. April 1861 gelegt, und an Bartholomäus (24. August) des Jahres 1862 fand die vorläufige Benediktion der Kirche statt. Auf persönlichen Wunsch des Pastors Drouven wurde noch der Anfang eines zweiten Seitenschiffes gebaut: die ehemalige Taufkapelle, im Volksmund sehr despektierlich (aber wahr!) „Schwätzkapelle" genannt. Was vor gut 100 Jahren begonnen wurde, konnte 1972/73 vollendet werden!

Kirche, Hoch- und Marienaltar wurden am 27. Oktober 1868 vom Erzbischof von Köln Paulus Melchers 11) konsekriert. Die Kosten für Ausstattung und Ausschmückung der Kirche wurden auf verschiedene Weise gedeckt: die Orgel wurde durch eine freiwillige Umlage bezahlt; die Glasfenster im Chor waren Geschen­ke verschiedener Bürger; Altar, Predigtstuhl und andere Kirchenmöbel wurden aus dem Ertrag von Kollekten beschafft; eine kostbare Mon­stranz stiftete die Familie Spies von Bülles­heim; die Messing-Kandelaber spendete der Ackerer Josef Düsterwald; zwei eiserne Kron­leuchter verehrte der Handelsmann Moritz Knorr aus Gendorf der Kirche; den Kreuzaltar malte der damals berühmte Professor Jansen aus Düs­seldorf.

1910 wurde der Friedhof, der jahrhundertelang um die Kirche herum lag, an die jetzige Stelle verlegt. Peter Moll aus Busch, der Vater von Metzger Hubert Moll, war der letzte Verstorbene, der an der Kirche begraben wurde. Sophia Hastenrath von der Vennstraße wurde als erste auf dem neuen Friedhof beigesetzt. 1911 bekam die Kirche elektrisches Licht; seit dieser Zeit änderte sich (bis auf einen Sakristeibrand am 17. Januar 1919) bis 1945 nichts. Im Januar, als die Hauptkampflinie an der Rur war, wurde die Kirche von einer schweren Granate getroffen. Diese durchschlug das Dach, das Gewölbe und hinterließ einen Krater zwischen Kommunionbank und Predigtstuhl. Die Bevölkerung von Ratheim war zu dieser Zeit evakuiert.

Der damalige Pfarrverwalter Walbert, der auch vom 1. März 1945 bis 31. Mai 1945 Bürgermeister von Hückelhoven-Ratheim war, ließ das Kirchdach mit Blechtafeln (von Sophia­Jacoba) zudecken und das Gewölbe mit Brettern verschließen. Die ebenfalls zerstörten bun­en Kirchenfenster wurden mit Drahtglas verschlossen und die übrigen Schäden so gut wie möglich beseitigt.

Unter Pastor Pütz wurde 1948 das Gewölbe durch die Firma Janssen & Söhne erneuert. 1953 wurde die Kirche von den hiesigen Malern und Anstreichern neu ausgemalt; neue bunte Fenster wurden eingesetzt. Im Laufe der Zeit ließ Pastor Pütz das Oberteil des Altares entfernen und durch ein großes Crucifix ersetzen. Die bunten Kreuzwegstationen fanden einen neuen Platz in der Südmauer (wo sie einheitlich grau übermalt wurden).

1968 kam Heinrich Pesch als neuer Pastor nach Ratheim. Bevor 1972 mit dem Um- und Erweiterungsbau begonnen wurde, gab es noch einige kleinere Veränderungen in der Kirche: so wurde die Kommunionbank abgebrochen und an ihrer Stelle auf einem Podest ein Altartisch aufgestellt; der Predigtstuhl wurde entfernt; eine Lautsprecheranlage wurde installiert.


Erläuterungen:

1) Die Familie Mülstroe spielte auch eine große Rolle in der Reformationszeit. So war Gielis von Rothem, einer der prominentesten Prädikanten aus Unserer Gegend, bis zu seiner Vertreibung Kaplan des Herrn von Mülstroe auf Haus Hall. Gielis muß ein gewaltiger Prediger gewesen sein: von den 230 Kommunikanten (das sind die, welche zur Kommunion gehen dürfen) hielten nur etwa 50 ihre Osterkommunion). Auch verließen damals in Ratheim die Gläubigen unter Protest das Gotteshaus. — Die Witwe des Heinrich von Olmissen genannt Mülstroe war eine eifrige Beschützerin der verfolgten Evangelischen. Bei ihr hat sich wahrscheinlich jahrzehntelang Campanus verborgen gehalten, ein führender Kopf der neuen Bewegung; er predigte nachts heimlich in den Wäldern der Umgebung. (Vgl. hierzu Heinrich Forsthoff, Rheinische Kirchengeschichte, Essen 1929; Heinrich Broich, Kirchengeschichte des Wassenberger Raumes, Geilenkirchen 1958).

2) Der Send war ein kirchliches Sittengericht, das ursprünglich vom Bischof oder seinem Vertreter und später von den Archidiakonen abgehalten wurde. Dabei wurden öffentliche Verstöße der Laien gegen kirchliche Gesetze erforscht und mit Kirchenbußen belegt.

3) Vgl. die Zeichnung der Gräber in der Ratheimer Pfarrkirche.

4) Der Albus ist der rheinisch-westdeutsche Silbergroschen, der 1362 von Erzbischof Kuno von Trier geprägt wurde und dann überall am Rhein und in Westdeutschland in Gebrauch war.

5) Vgl. hierzu die Aufzeichnungen des Pastors Drouven.

6) Nach Heinrich Terboven, Die Mersener Räuberbande in Hückelhoven.

7) S. hierzu auch die Darstellung des Kirchturmstreites bei Pastor Drouven.

8) Nach Peter Schlebusch, Chronik der Bruderschaft.

9) Der Stüber ist eine Rechnungseinheit am Niederrhein; 1816 war ein Stüber sieben preußische Pfennige.

10) Nach dem Gerderather Heimatbuch und den Lokalgeschichtlichen Sagen und Legenden von Heinrich Terboven lassen sich für Ratheim folgende Einwohnerzahlen nachweisen: 1533 zwischen 455 und 600 Einwohner; 1560 zwischen 700 und 800; 1910 2045 Einwohner mit Millich und Schaufenberg; 1930 wohnten im Pfarrbezirk 3727 Katholiken; 1867 waren es 2156 Einwohner; zu Beginn des ersten Weltkrieges 2500.

11) Erzbischof Melchers wurde während des Kulturkampfes wegen nicht bezahlter Geldstrafen ersatzweise über sechs Monate inhaftiert und amtierte seit 1875 von Maastricht aus.

 

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich be­danken für die Hife zu dieser Chronik, die mir von seiten der Ratheimer Bevölkerung durch Fotografien und Auskünfte zuteil wurde. Besonderer Dank gilt vor allem Pastor Heinrich Dentel aus Baesweiler, der immer mit Rat und Tat zur Seite stand. Des weiteren danke ich Dr. Piepers vom Rheinischen Landesmuseum, Leo Gillessen aus Gerderath, Studienrat a. D. Lenz aus Heinsberg und Rektor i. R. Johannes Heinrich Terboven aus Hückelhoven.



Entnommen aus: LATOUR, Hans (Hrsg.) (1973): Beiträge zur Geschichte der Pfarrgemeinde Ratheim. - Eigendruck vom 16.12.1973 anlässlich der Erweiterung der Pfarrkirche.