und unsere Gemeinschaft der Gemeinden
von Bernd Hoppmanns (mit Ergänzungen von Helmut Winkens)
Seit mehr als 1000 Jahren gibt es einen bemerkenswerten christlichen Brauch, der zwar mehr und mehr in Vergessenheit geraten ist, in landwirtschaftlich stark geprägten Gegenden jedoch am Mariä-Himmelfahrts-Tag bis in die heutige Zeit besondere Beachtung findet:
Gemeint ist das Fest der Kräuterweihe. Während man andernorts zu diesem Zweck alle möglichen Kräuter, Gräser, Ähren und Blumen zu einem bunten Sommerstrauß bündelte, der dann zum Gottesdienst mitgebracht und gesegnet wurde, hat dieser Brauch in unserer Gegend schon vor langer Zeit eine eigentümliche Abänderung erfahren. Wie mir aus gut unterrichteten und verlässlichen Quellen bekannt wurde, durften hier - d.h. in der Ratheimer Gemarkung - nur ganz bestimmte und ausgewählte Kräuter zusammengefügt werden, die meist von Kindern am Vortag der Weihe gesucht und gepflückt wurden. Dabei gab es einen regelrechten Wetteifer zwischen Jungen und Mädchen, diese vorgeschriebenen Bestandteile eines "Kruutwööschs" zusammenzubringen, nämlich exakt 14 (möglicherweise eine Anlehnung an die 14 Nothelfer); und schon viele Tage vorher wurden die Fundorte kritisch erkundet und voreinander geheim gehalten, damit man am Weihetag voll Stolz den vollständigen und fehlerlosen Kräuterstrauß vorweisen konnte. Das muss damals schon nicht so ganz einfach gewesen sein, denn das geheimnisumwitterte Lötzejeblaat - auch Lotterzeje oder Lösseßejeblaat genannt - war ein extrem heiß begehrtes Kräutlein.
Es gab sogar eine ganz besondere Art, diesen Strauß zu ordnen und zu bündeln, so dass er napfförmig aussah und somit in der Mitte eine nestartige Vertiefung aufwies, die zur Aufnahme eines Apfels diente. Der ganze Strauß wurde dann ringsum mit aufrecht stehenden Blättern des Rohrkolbens umschlossen.
Ich habe bei vielen alten Ratheimern Erkundigungen eingezogen, welche bestimmten Kräuter nun zu diesem Kruutwöösch gehörten. Freilich konnte man mir stets nur die mundartlichen Bezeichnungen bieten, und es stellte sich im nachhinein als recht schwierig und aufwendig heraus, diesen besagten Strauß zu rekonstruieren, denn in unserer Zeit sind manche Kräuter, die vornehmlich auf sumpfigem Untergrund heranwachsen, zu ausgesprochenen Raritäten geworden.
Ich habe im folgenden die 14 Bestandteile aufgelistet, und zwar nach ihren mundartlichen, deutschen und biologischen Bezeichnungen:
Ich kann nicht ausschließen, dass bei den biologischen Artenbezeichnungen hier und da Unstimmigkeiten möglich sind, da die Auskünfte meiner Gewährsleute nicht in allen
Fällen völlig übereinstimmten; auch die mundartlichen Ausdrücke wichen zuweilen voneinander ab.
Es ist jedoch interessant und verdient an dieser Stelle festgehalten zu werden, dass das ominöse Lötzejeblaat, das man in der freien Natur in unserer Gegend meines Wissens nicht mehr
antreffen kann, in einzelnen Ratheimer Gärten - wenn auch als lästiges Unkraut ziemlich kurz gehalten - wie ein Augapfel gehütet und gepflegt wird. Das ist nicht von
ungefähr, denn die Osterluzei ist bei uns gar nicht zu Hause. Sie stammt nämlich aus dem Mittelmeergebiet und wurde im Mittelalter von Mönchen bei uns eingeführt und in
Klostergärten als Heilkraut angebaut; das seltene Gewächs mag wohl von dort seinen Weg in unsere Gärten gefunden haben. Übrigens finden alle 14 Bestandteile des
Straußes in der Homöopathie bzw. Medizin bis in die heutige Zeit eine spezifische Verwendung.
Was geschah nun weiterhin mit diesem Kräuterbusch? Er wurde nach dem Festgottesdienst nach Hause getragen und in der Diele, am Kamin, auf der Tenne oder in der Kornkammer zum Trocknen aufgehängt.
Gewiss mag in der einen oder anderen Handlungsweise noch eine Spur von Aberglaube oder gar heidnisches Brauchtum mitschwingen,
eines ist aber sicher: Man war sich der Heilkraft der Kräuter noch ziemlich bewusst, und mit des Priesters, d. h. Gottes Segen glaubte man vertrauensvoll an eine besondere Wirksamkeit.
Mir schien es wichtig, dies alle zusammenzutragen und festzuhalten denn in unserer modernen und schnelllebigen Zeit geht leider allzuviel verloren, was unseren Vorfahren noch bedeutsam und
wichtig erschien.
(aus dem Pfarrbrief September 1987)
Anmerkungen von Helmut Winkens
In dankbarer Erinnerung an meinen ehemaligen Biologie-Lehrer Herrn Bernd Hoppmanns habe ich seine Pflanzenliste tabellarisch aufgearbeitet und mit Abbildungen versehen, was im Pfarrbrief natürlich nicht möglich gewesen wäre. Die botanischen Pflanzennamen habe ich - wo erforderlich - der aktuellen Nomenklatur angepasst.
Weiterhin habe ich meine Kenntnis über das heutige (2006) Vorkommen dieser Pflanzenarten in Ratheim angefügt. Ergänzungen und Korrekturen sind gerne willkommen.
Bilder | (120kB / 128kB) |
Roathemer Platt | Schafjarbe |
Hochdeutsch | Wiesen-Schafgarbe |
Botanischer Name | Achillea millefolium L. |
wo heute in Ratheim | häufig (Wegränder, Feldraine, trockenere Wiesen) |
Nach Angaben von Bewohnern der Bergstraße ist die Stechpalme kein Bestandteil des Kruutwöösch, statt dessen kommt hier die Schafgarbe dazu.
Wegen der Giftigkeit der Stechpalme einerseits und der bekannten Heilwirkung der Schafgarbe andererseits erscheint mir dies auch plausibel.
Der größte Teil der Photographien stammt aus der freien Enzyklopädie Wikipedia. Die Bilder unterliegen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation. In der Wikipedia ist bei den jeweiligen Pflanzennamen der Name des Bildautors verfügbar.
Die übrigen Bilder sind eigene oder meines Wissens gemeinfreie.