und unsere Gemeinschaft der Gemeinden
von Dr. W. Piepers
Die Ortsbezeichnung Ratheim gehört zu der Namengruppe auf -heim. Diese Namen, wie auch die auf -ingen, gehören zum ältesten deutschen Namensbestand. 1) In dem Grundwort -Heim steckt die gleiche Bedeutung wie etwa das römische Villa. Zu diesen Grundwörtern tritt dann vielfach der Name des Besitzers als kennzeichnende Bestimmung. Gelegentlich können die nähere Bestimmung auch hervorstechende Merkmale der örtlichen Verhältnisse, wie etwa ein Berg oder ein Tal, sein. 2) Zum alten Namen kommt in Ratheim ein bemerkenswertes Patrozinium hinzu. Die auf einem Geländesporn gelegene Kirche, die das Rurtal weithin beherrscht, ist Johannes dem Täufer geweiht. Dieses Patrozinium gehört zu den älteren Schichten rheinisch-maasländischer Heiligenverehrung. Der Ortsname und das Patrozinium des Gotteshauses weisen auf ein bedeutendes Alter von Ort und Kirche.
In einem Aufsatz „Streifzüge durch's Heinsberger Land" macht P. A. Tholen bereits vor Jahrzehnten auf altes Mauerwerk an der Nordseite der Ratheimer Kirche aufmerksam. 3) Ihm folgt Franz Mayer in einer Arbeit „Zur ältesten Geschichte von Ratheim" mit den gleichen Beobachtungen. 4) Einen besseren Einblick in das Mauerwerk gestatteten Umbauarbeiten an der Pfarrkirche, die im Winter 1972/73 durchgeführt wurden. 5) Für eine Verbreiterung der Kirche wurde die genannte Nordmauer niedergelegt. Dabei kamen größere Mengen römischer Flachziegel und weiteres römisches Baumaterial, das hier eine zweite Verwendung gefunden hatte, zutage. Mit diesem Umbau fiel der letzte Rest sichtbarer Bauteile eines längst vergessenen Gotteshause. Möglicherweise steckt im Westschluß des nunmehrigen Mittelschiffes, der zugleich Unterbau für den Kirchturm ist, im Mauerinnern noch ein Kern dieser alten Anlage.
Der jetzt abgebrochene Teil des bisherigen Langhauses war sogenanntes Schalmauerwerk. An den Außenflanken war es aus Findlingen, Bruchsteinen und römischem Ziegelbruch sorgsam gefügt. Im Mauerinnern lagen Geröllsteine, grobe Brocken Raseneisenstein und grauer Kalksandmörtel ohne Schichtung eingefüllt. Die Außenflanken waren in den letzten Jahrhunderten zu einem erheblichen Teil mit Feldbrandziegeln ersetzt oder ausgebessert worden. Bei dem Abbruchmaterial lagen im Dezember 1972 nördlich der Kirche zwei würfelförmige römische Pfostensteine, die aus Sandstein gefertigt waren. Das ältere Baumaterial dürfte von einem römischen Gutshof stammen, der in der näheren oder weiteren Umgebung der Kirche gestanden hat und beim Einfall der Franken im frühen Mittelalter untergegangen ist. Die oben erwähnten Geröllsteine gehören jedoch nicht zum Nachlaß römischer Bauten. Sie sind typisch für das Mauerwerk romanischer und vorromanischer Kirchenbauten im westlichen Rheinland und Maasland.
Nach unseren heutigen Kenntnissen sprechen das Baumaterial und die Technik des alten Mauerwerkes von Ratheim für eine ehemalige Saalkirche. 6) Diese Folgerung wurde unterbaut durch weitere Beobachtungen bei den Erdarbeiten für den Umbau der Kirche. Nördlich des dritten Pfeilers der südlichen Pfeilerreihe lag eine Fundamentecke frei, die von Süden herkommend im rechten Winkel nach Osten einbog (vgl. Abb. Saalkirche). Dabei handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit um den Übergang vom Langhaus zum Chor einer Saalkirche. Die Saalkirche ist, wie schon der Name sagt, ein schlichter rechteckiger Saal, meistens mit nach Osten angeschlossenem, im Grundriß quadratischem oder rechteckigem Chor. Der Saal der Ratheimer Kirche war 13,5 m lang und hatte eine lichte Breite von 6,5 m. Der Chor war innen 4,5 m breit. Die Länge ließ sich nicht mehr ermitteln, weil im östlichen Bereich des Chores der Einbau einer späteren Gruft aus Feldbrandziegeln die älteren Bauspuren verwischt hatte. Die Länge des Chores dürfte nach den sonst üblichen Maßverhältnissen etwa 5 m betragen haben. Eine Verbreiterung der Kirche führte zum Anbau eines südlichen Seitenschiffes an die Saalkirche. Bei dieser Gelegenheit hat man die Südmauer des Saales mit drei Bögen durchbrochen, um den Erweiterungsbau in den Kirchenraum einzubeziehen. Einen weiteren Ausbau erfuhr die alte Kirche durch eine Verlängerung des Saalbaues nach Osten. Der Chor der Saalkirche wurde abgebrochen und an seine Stelle trat ein nach gotischer Bauweise dreiseitig geschlossenes Altarhaus, das auf die Breite des Saalbaues ausgedehnt wurde (s. Abb). Um diese Zeit, wohl im 15. Jahrhundert, wurde auch der Westturm errichtet. Der Oberbau des Turmes ist ein Werk des 17. bis 18. Jahrhunderts. Diesen Bauzustand überliefern uns die Kunstdenkmäler des Kreises Heinsberg zusammen mit einem Grundriß der Kirche von 1906. 7) Im Jahre 1862 wurde dieser gotische Chor durch den Anbau eines großen Querhauses mit Chor ersetzt. Es ist die Kirche, die bis vor Jahresfrist stand, und zu dieser Zeit um ein nördliches Seitenschiff verbreitert wurde. Bei diesem Umbau, der das Gleichmaß oder die Symmetrie des Langhauses herbeiführte, mußte die letzte noch sichtbare Mauer der Saalkirche, die zumindest der romanischen Zeit, also jedenfalls der Zeit vor 1200 entstammt, niedergelegt werden. 8)
1) Adolf Bach, Die deutschen Ortsnamen. Bd. 1 und 2 (Heidelberg 1253/54) S. 483 ff.
2) Wie zum Beispiel Bergheim und Dalheim.
3) P. A. Tholen, Die Heimat — Heinsberg — Jahrgang 3, 1923, S. 34.
4) Franz Mayer, Heimatkalender der Heinsberger Lande Jahrgang 7, 1931, S. 29 ff.
5) Für freundliche Mitteilung über die Umbauarbeiten danke ich den Herren P. Knippertz und H. Latour aus Ratheim. Herrn D. J. Ritzenthaler, Architekt BDB aus Hückelhoven, danke ich für die Überlassung des Vermessungsplanes der jetzigen Kirche, in dem die älteren Befunde eingezeichnet werden konnten.
6) J. J. M. Timmers, De Kunst van het Maasland (Assen 1971), S. 31 ff., insbesondere auch Afb. 22-24. P. J. Tholen, Die Saalkirchen im Selfkant. Veröffentlichung des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz. Der Niederrhein (Neuss 1953), S. 70 ff.
7) Die Kunstdenkmäler des Kreises Heinsberg. K. Franck — Oberaspach und E. Renard (Düsseldorf 1906), Fig. 69 und 70.
8) Saalkirchen können auch vor der letzten Jahrtausendwende entstanden sein. Da jedoch keine datierenden Funde gemacht wurden, sollte man mit einer zu frühen zeitlichen Ansetzung vorsichtig sein. Es ist zudem durchaus möglich, daß vor der Saalkirche an gleicher Stelle eine Holzkirche gestanden hat. Die ließe sich jedoch nur durch eine sorgfältige Ausgrabung nachweisen. Die örtlichen Gegebenheiten, der Orstname und das Patrozinium, sowie die Ergebnisse der Grabungen nach dem letzten Krieg in zahlreichen rheinischen Kirchen, führen zu diesen Überlegungen.