Wenn die Glocken läuten ...

von Sibille Kurth
 

Immer wenn der Wind von Westen weht, höre ich sie ganz nahe - die Glocken unserer Pfarrkirche. Ein Leben lang hat mich ihr vertrauter Klang begleitet.

Schön als Kinder wurden wir von den Glocken zur hl. Messe gerufen. Täglich - bei Wind und Wetter - trabten wir um 10 vor 7 zur Kirche - vor der Schule. Nachher ging es schnell nach Hause zum Frühstück, damit wir pünktlich um 8 Uhr in der Schule waren. Kinder, die von weither kamen, z. B. von Garsbeck oder Vogelsang, durften vor dem Unterricht in die Klasse gehen, um sich dort im Winter zu wärmen und
zu frühstücken. Im Winter war es in der Kirche so kalt, dass unser Herr Pastor Offermanns beim Kommunionausteilen kaum die Hostien halten konnte, so steif gefroren waren seine Hände.
Heute noch erinnere ich mich deutlich an seinen beschwerlichen Gang, wenn er auf seinen Stock gestützt im weißen Haar durch die Kirche ging. Unser Hochaltar lag damals einige Stufen hoch, und für unseren Pastor Offermanns wurde zur Hilfe extra ein Geländer angebracht.

Sonntags nachmittags war Christenlehre; wir Kinder hockten knieend auf dem Fußboden. Die Kinderbänke, ein ganz großes Ereignis, kamen erst später, Ende der zwanziger Jahre.

Hin und wieder wurde in Ratheim Mission abgehalten. Tüchtige Redner sorgten für ein volles Gotteshaus. Zum Abschluss gab es einen besonders feierlichen Gottesdienst, bei dem wir kleinen Mädchen im weißen Kleid, mit Kränzchen und brennenden Kerzen in Herz- oder M-Form vor dem Altar gruppiert waren und mit heller Stimme Mariengebete sprachen. Es muss ergreifend gewesen sein, denn überall wurden Taschentücher gezogen.
Einer der Patres sprach in der Predigt einmal schelmisch von gutem Sonntagsessen mit Pudding, was einen kleinen Jungen veranlasste, ihn auf der Strasse mit: "Guten Tag, Herr Pudding!" zu grüßen.

Während des Krieges starb unser Pfarrer Offermanns bei einem Bombenangriff in Rheindahlen. Seine Stelle übernahm Pfarrverwalter Walbert. In seinen donnernden Predigten hieß es öfter: "Gottesdienst ist nichts für Weichlinge, sondern für Männer aus Nirosta-Kruppstahl." Er schaffte es in seiner deftigen Art, die Männer, die meistens vor der Kirchtür die Messe abstanden, ins Gotteshaus zu bewegen. In dieser Zeit kamen dann manche traurigen Nachrichten über Kriegsgefallene in unsere Gemeinde, und wenn dann während der Wandlung die Orgel ganz leise das Lied vom guten Kameraden spielte, war es schwer, der Tränen Herr zu werden. Da war die Kirche vielleicht voll!!

In der Zeit, als die Ratheimer zum größten Teil evakuiert waren, wurde die Kirche zeitweise als Notunterkunft für unsere Truppen gebraucht. Ich entsinne mich auch, dass vor der Orgelbühne die Hakenkreuzfahne aufgespannt war.
Und ungeschoren von Granateinschlägen ist unser Gotteshaus auch nicht davongekommen. Nach Kriegsende wurden alle Schäden provisorisch ausgebessert, und wir bekamen Herrn Pastor Pütz als neuen Vater der Pfarrgemeinde. Der führte ein gestrenges Regiment, bis auch er in ein besseres Leben abberufen wurde.

Nach Herrn Pfarrer Pütz betreute Herr Pastor Pesch mit viel Hingabe die Pfarrfamilie, bis er aus gesundheitlichen Gründen uns verlassen musste. In seiner Ratheimer Zeit wurde die Pfarrkirche um das Nordschiff erweitert und renoviert.

Heute nun freuen wir uns über eine wunderschön hergerichtete, freundliche Kirche. Durch Kirche und Gottesdienst weht heute ein junger froher Geist durch unseren Herrn Pastor Jansen, und jeder aufgeschlossene Christ kann einen guten Gedanken von der Sonntagsmesse mit nach Hause nehmen.

Nach Ratheim kommend, sieht man aus jeder Himmelsrichtung den Turm von St. Johannes d. T., hört man die Glocken und die Turmuhr der Kirche, in der schon unsere Ahnen und Urahnen beteten. Und jeder Ratheimer weiß: In dieser Kirche ist Heimat.

(aus dem Pfarrbrief Weihnachten 1990)



Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

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