Weihnachten 1944

von Sibille Kurth
 

Es war bitterkalt, und der dickgefallene Schnee war hart gefroren. In Ratheim war es still.

Die Bevölkerung war evakuiert bis auf einige Männer der Stadt- und Landwacht und ein paar DRK- Helfer und -Helferinnen. In die Häuser hatten sich Soldaten einquartiert: das Ostmärker-Regiment, Feldpost-Nr. 43 539 A, lauter Wiener und andere Österreicher.
Die kleine Fliegerabwehrkanone, die irgendwo zwischen Altmyhl und Gerderath stationiert war, schwieg. Sonst gab sie täglich drei bis vier Schüsse von sich (wahrscheinlich Munitionsmangel) und zog dadurch starkes feindliches Artilleriefeuer auf unseren Ort. Überall gab es leichtere oder schwere Einschläge, und man lag nachts im Keller mit klopfendem Herzen, wenn man die Granaten sausen hörte.

Heute war es ruhig. Die Soldaten gingen in die Christmette. Glocken läuteten nicht, die waren zum Einschmelzen abgeholt worden. In der Kirche war es dämmrig. Im rechten und linken Seitenschiff war Stroh aufgeschüttet. Auch hier übernachteten Landser. Vor der Orgelbühne war in ganzer Breite eine riesige Hakenkreuzfahne gespannt, mit Grün geschmückt. Ein paar einsame Tannenbäume erinnerten an Weihnachten und verströmten Tannenduft, ansonsten roch es nach Uniformen, Lederkoppeln und Stiefeln. Die Kirche war voller Soldaten. Die Orgel spielte, und aus hunderten rauher Männerkehlen klangen die alten Weihnachtslieder. "Stille Nacht, heilige Nacht" - es herrschte eine wehmütige Stimmung, und manche Träne wurde verdrückt.

Pfarrer Walbert hatte besinnliche und aufmunternde Worte für die Soldaten: "Wir sind alle in Gottes Hand." Nach der Generalabsolution gingen alle zum Tisch des Herrn in tiefer Andacht. Still und in sich gekehrt trabten die Landser nach der Christmette durch die Kälte in ihre Quartiere.
Dort wurden die Öfen geheizt, Tee gekocht und die Weihnachtspäckchen und Feldpostbriefe ausgepackt. Ein paar Kerzen brannten, und man dachte an die Lieben daheim. Was wird das neue Jahr bringen?

50 Jahre sind seitdem vergangen. Die Glocken sind verschont geblieben und heimgekehrt. In diesem Jahr läuten sie wieder:
"Friede den Menschen auf Erden!"

(aus dem Pfarrbrief Weihnachten 1994)



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