Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


Der Ohof bei Ratheim

von Edmund Knorr
 

Ratheim, Ohof um 1950
Ohof um 1950
Bildquelle: Kreisbildstelle Erkelenz

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Der Ohof *) liegt an der Südwestseite des Dorfes Ratheim und nur einige 100 Meter von ihm entfernt auf der Niederterrasse der Rur. Bis vor 60 Jahren war er die einzige Siedlung jenseits des Haller- und Kellerbruches. Seine Lage im Hochwassergebiet der Rur, nur geschützt durch einen Damm vom Hagbruch an der „Strang" und der rechten Seite des Flusses entlang, ist zweifellos der Hof­siedlung in früheren Jahrhunderten öfters schlecht bekommen. Durch münd­liche Überlieferung ist mir bekannt, dass noch in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bei einem Dammbruch zwischen Hagbruch und der „Strang", einer früheren Stromschnelle diesseits der Rurbrücke, das Hochwasser den Ohof er­reichte, trotz aufgeworfener Notdämme aus Stalldünger durch Tore, Türen und Fluren in den Hof strömte und über Tennen und durch Scheunentore wieder zum Weideland abfloss.

Von seiner Lage am Rande der Rurbenden – letztere im Volksmund „Uhe" genannt – könnte sein Name herzuleiten sein; denn Ohe – althochdeutsch: ouve oder hochdeutsch: Aue – bedeutet wasserreiches Wiesenland; der Ohof ist also der Hof an der Ohe. Im Ratheimer Volksmund hört man nur „Jen-Uev", d. h. der Ohehof jenseits des Dorfes.

Urkundlich wird aber schon 1578 auch eine Familie Ohoff in Ratheim als Besitzerin des Kreckelberger Hofes genannt, und da die Schreibweise für den Ohof auch wiederholt in Urkunden und Verträgen als „Ohoff" erscheint, ist auch nicht ausgeschlossen, dass der Hof einmal von dieser Familie Ohoff bewohnt war und nach ihr benannt ist. Umgekehrt geht der Familienname Ohof zweifelsohne auf einen Hofbewohner an oder in der Wiesenaue zurück. Auch de Kreckelberger Hof lag unmittelbar an der Ratheimer Ohe, aber vorsichtshalber auf dem Rande der dortigen Mittelterrasse, also rund 15 Meter höher als die Ohe und damit außerhalb des Hochwasserbereichs.

Erwähnenswert ist noch, dass hinter dem Ohof die alte Verkehrs- und Handelsstraße: Maastricht - Ratheim -
Buscher Bahn - Schwanenberg - Beeck - Rheindahlen - Neuß die Rur anfangs mittels einer Fähre und seit 1827 mit einer Holzbrücke kreuzte.

Von den ehemaligen Herrensitzen und Gutshöfen, an denen Ratheim auffallend reich war, und die der Amtmann von Wassenberg als Lehen des Herzogs von Jülich vergab, erscheint der Ohof, soweit bekannt, erst 1470. Jan von Harff, genannt von Linzenich, zeichnete in diesem Jahr als Besitzer des Ohofes. Seine Urenkelin brachte Werner von Palant noch einen Anteil am Ohof mit in die Ehe. Möglicherweise war der Palanter Hof in Ratheim identisch mit dem Ohof; aber der Palanter Hof lag wie der Winkelhausener Hof an der Mühlenstraße dicht vor Gendorf. Noch in meiner Jugend hieß die Familie Brendgens am Weiher „bei Hoefs".

Im Jahre 1680 wurde ein Graf Wallmode zu einem Viertel Besitzer des Ohofs, bald darauf hatte ein Graf von der Mark das Gut inne, bis in der Zeit von 1699-1715 Freiherr von der Gracht zu Wenze, der zunächst ebenfalls nur ein Viertel des Ohofes besaß, auch die übrigen drei Viertel erwarb, insgesamt 210 Wassenberger Morgen. Von ihm ging der Hof an den Freiherrn von Weichs, den Gemahl der Luise Freiin von der Gracht, über, der den Hof in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts an den Grafen Ambrosius von Spee auf Schloss Heltdorf bei Düsseldorf verkaufte. Im Besitz derer von Spee verblieb der Hof bis 1832.

Eine nur noch teilweise leserliche Inschrift eines Steinkreuzes auf dem Ratheimer Kirchhof verzeichnet den Tod von Hendrick Vonberg, Halfmann auf dem Ohoff, im Jahre 1717. Nach ihm erschienen als erste Pächter unter von Spee'schem Besitz die Eheleute Theodor Lousberg und Catharina Carsth, denen Andreas Lojen und Gerhard Beckers als gemeinsame Halbwinner folgten.

Nach dem frühen Tode von Andreas Lojen (1738) bewirtschafteten die Eheleute Johann Lengersdorf und Maria Prinzen den Ohof. Als ersterer 1759 verstarb, heiratete seine Frau in zweiter Ehe Arnold Moll aus Busch bei Ratheim, der nun als Pächter eintrat und gemeinschaftlich mit Adolf Dorsch bis 1769 den Ohof inne hatte.
Nach 1769 übernahmen Arnold Beckers und Adam Vieten als Halfmänner den Ohof und als ihre Nachfolger Edmund Joseph Johann Knorr, geboren am 20. 2. 1757 auf Haus Kobbendahl bei Ratheim und Ehegemahl der Tochter von Vieten und Gerhard Beckers aus Busch. Letzterer war in erster Ehe mit Elisabeth Schloßmacher aus Harff und in zweiter Ehe mit Anna Katharina Küppers aus Matzerath vermählt. Dieser Ehe, die am 3. 5. 1792 in Erkelenz geschlossen wurde, entstammen Johann Arnold Beckers, der nachmalige Hofbesitzer und langjährige Bürgermeister von Ratheim und meine Großmutter Anna Katharina Beckers, die 1825 Ludwig Theodor Knorr, 1799 auf Haus Kobbendahl geboren, ehelichte.

Am 1. August 1816 bezogen den Ohof als neue Pächter Konrad Knorr und Gerhard Beckers, ein Sohn des vorgenannten Gerhard Beckers; ersterer war am 16. 4. 1782 ebenfalls auf Haus Kobbendahl geboren. Der Ohof wies nun ein Areal von 278 Morgen auf: 93 Morgen Acker, 98 Morgen Benden (Wiesenland zur Heugewinnung) und 83 Morgen Kuhweide. Die Pachtzeit betrug 12 Jahre. Aus dem Pachtvertrag seien einige Bedingungen hervorgehoben: jährliche Pachtsumme 1000 Reichstaler; jährlich 100 Pappelweiden, wenigstens 20 Fuß lang, 100 Eichen und 20 Obstbäume pflanzen; Rurbattungen (Befestigung gefährdeter Uferstrecken mit Faschinen) und Dämme, sowie Fährschiff unterhalten; 1/4 der Grundsteuer tragen; vom 1. Mai bis 1. November eine Zuchtstute des Gutsherrn mit Fohlen verpflegen und 4 bis 6 Fohlen weiden lassen; auf Verlangen einen Jagdhund in Futter nehmen; bei Vernichtung der Heuernte durch Hochwasser 200 Reichstaler Pachtnachlass. (Anfang September 1735 verdarben durch ein orkanartiges Unwetter 16 Morgen Buchweizen auf dem Ohof; am 13. August 1832 vernichtete ein Hagelschlag die Ernte in der Gemarkung Ratheim, deren Feldschaden vom Besitzer des Ohofes auf 21 000 Reichstaler geschätzt wurde.)

Unter dem Nachlaß meines Vaters (+ 1908) fand ich einen persönlich geschriebenen Brief des Grafen Carl von Spee an seinen Rentmeister in Wassenberg über den Ohof, der die wirtschaftlichen, politischen und auch persönlichen Verhältnisse in der französischen Zeit unserer Heimat um 1800 beleuchtet und daher von Interesse sein dürfte. Er lautet im Original:


An Citoyen
Guillaume Erneste Rheinbach á Wassenberg

Hochedelgeborener
Hochgeehrter Herr

Es freut mich, daß die Sommerfrüchte auf dem Ohof den Schaden, den die Halbwinnere an der Winterfrucht erlitten, wieder einiger Mahsen ersetzen und also selbige nicht zu klagen Ursache haben, wo der Schaden des Mihswachses, da dieselben Stilio ferreo gepachtet haben, sie ganz allein getroffen hätte; auch ist mir lieb, daß die Stallungen ohne weitere Kosten besser eingerichtet und unterfangen worden sind.

Was die übrigen Baulichkeiten am Hause und sonsten betrifft, die Euer Hochedelgebohrn mit 200 Reichsthaler glauben bestreiten zu können, so wäre ich wohlgesinnt, diese zu verwenden, weil aber meine jenseits Rheins gelegenen Besitzungen durch die schweren Grundsteuern in ihren Einkünften um die Hälfte vermindert, ja einige ganz verloren gegangen sind, und diehsseits Rheins sich überall Mihswachs ergeben, so könnte ich diese 200 Rhsth. so auf einmal an dem Empfang nicht füglich entbehren. Wollen die Halbwinnere aber den Vorschuß dergestalt thuen, daß ihnen alle Jahre 50 Reichsthaler am Pacht valedirt, mithin in 4 Jahren die Schuld abgemacht würde, so könnte ich die Arbeit nach dem Vorschlag erleiden.

Übrigens werden Euer Hochedelgebohrn am besten wissen, wan die Zeit seyn würde, sowohl die Gemeinde zur Nachsuchung der Oktroi wegen dem Brückenbau anzutreiben, als auch die Arbeit daselbst demnächst anzufangen, welches ich Ihnen also bestens anempfohlen seyn lasse, und mit wahrer Hochachtung bin

Heltdorf den 16. Sept. 1802

Euer Hochedelgebohrn ergebener Diener CGrafvSpee
 

Nach 20jähriger Pachtzeit kommt alsdann am 14. 5. 1836 der Kaufakt über den Ohof zwischen dem Grafen Franz v. Spee und, den derzeitigen Pächtern Konrad Knorr und Arnold Beckers zustande, nachdem beide Pächter die Kaufsumme in Höhe von 24 000 Reichstalern mündlich mit dem Grafen vereinbart hatten. Gleichzeitig erfolgte die erste Teilung des ursprünglichen Besitzes. Arnold Beckers, von 1831 bis 1851 Bürgermeister von Ratheim, erhielt das Gutshaus aus dem Ende des 18. Jahrhunderts mit den Ökonomiegebäuden, sowie die anliegenden Gärten, Wiesen und Ackerländereien, insgesamt 110 Morgen. Das Gutshaus, ein zweigeschossiger, hoher Backsteinbau, ist im wesentlichen auch heute äußerlich kaum verändert. Ferner fiel ihm die ehemalige Kellnerei zu, ein eingeschossiges Langhaus, zwischen dem Gutshaus und der unteren Ratheimer Burgstraße – im Volksmunde heute noch „Op dr Keller" – schon lange vor 1900 als Gasthaus eingerichtet, in den letzten 50 Jahren durch Um- und Anbauten stark verändert. Die Rurbrücke verblieb zunächst im gemeinsamen Besitz der Käufer, ging dann aber im Jahre 1855 an Arnold Beckers über.

Konrad Knorr mit einigen Teilhabern hernahm den größeren Teil der Ländereien, des Wiesen- und Weidelandes. Ersterer bewohnte den Hof, der vor dem Eingange von Gendorf von der Mühlenstraße her lag. Sehr wahrscheinlich war es der ehemalige Palanter Hof, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts völlig aufgesplissen wurde. Der Hof selbst wurde im Juli 1883 durch Blitzschlag völlig eingeäschert und nicht wieder aufgebaut. Auf einem Teil der alten Hoffläche erbaute Losberg aus Gendorf ein größeres Anwesen, zu damaliger Zeit im Volksmunde „bei Vlöppe" bezeichnet.

Konrad Knorr hatte nur einen Nachkommen: Johann Edmund Knorr, ein Vetter meines Vaters, geboren 1837 auf dem Hofe in Gendorf. Er verbrachte nach seiner Erziehung im Jesuitenkloster Rolduc in Holland seine weiteren Lebensjahre — da er unverheiratet blieb —bei meiner Tante Karoline Beckers, geborene Knorr, im Ohof und mit ihr die letzten Jahre von 1899 bis 1904 „Auf dem Keller". Pfarrer Thoma schreibt auf seinem Totenzettel:

„Kindlich fromm, sittenrein, einfach und bescheiden brachte er die Tage seines Lebens zu. Von seinem Vermögen sammelte er sich Schätze, indem er reichlich Almosen spendete."

Seine Ländereien des ehemaligen Hofes fielen an drei Vettern und seine Kusine Karoline und wurden in der Folgezeit durch den Kinderreichtum der Knorrlinien und eine schrankenlose Realteilung weiter versplissen.

Arnold Beckers starb 1875 im Ohof und hinterließ neun Kinder: vier Söhne und fünf Töchter, von denen die Söhne Wilhelm und Ludwig sowie die Tochter Pauline bis zu ihrem Lebensende in ihrer Geburtsheimat verblieben, der Sohn Hubert im engeren Heimatgebiet als langjähriger Bürgermeister von Wegberg mit einem auch aus politischen Hintergründen herbeigeführten tragischen Abgang. Sein Grabmal auf dem alten Wegberger Friedhof ist noch erhalten. Der jüngste Sohn, Ludwig Beckers, widmete sich der Landwirtschaft zur Übernahme des Hofes, erlitt aber erst 23jährig und soeben von seiner Militärdienstpflicht bei den Garde-Kürassieren in Berlin entlassen 1873 einen schweren Jagdunfall in Hilfarth durch einen Jagdteilnehmer aus Rheindahlen. Um sein Leben zu retten, wurde die Amputation des rechten Beines bis zur Hüfte erforderlich. Infolgedessen war er gezwungen, sich einem anderen Berufe zuzuwenden, so dass nach dem Tode seines Vaters nunmehr auch diese Hälfte des ehemaligen Hofbesitzes in neun Teile aufgesplissen wurde. Wilhelm Beckers erhielt hierbei das alte Gutshaus und den „Keller", die Tochter Pauline, verheiratet mit Wilhelm Hensen aus Gerderath, bekam das Gasthaus an der Rurbrücke; sie starb im Alter von 90 Jahren und hinterließ ebenfalls eine zahlreiche Kinderschar, die noch heute in vielen Ästen grünt. Ludwig Beckers, seit 1879 mit Betty Brackertz verheiratet, einer Nichte des damaligen Ratheimer Pfarrers Georg Drouven, fügte alsbald dem alten Gutshaus zur Ostseite hin einen zwei­geschossigen Wohnflügel mit sechs Achsen und Toreingang an der Vorderseite an, der sich mit dem älteren Teil und den vorgelagerten Zier- und Wirtschaftsgärten zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügte; so kannte ihn die Ratheimer Generation vor und nach der Jahrhundertwende bis zum vergangenen Sommer. Der ursprüngliche, die Hof­gebäude an drei Seiten umschließende Hofteich wurde bereits 1886 eingeebnet, weil der 3jährige Arnold Beckers in einem unbewachten Augenblick in ihm ertrank.

Das alte Gutshaus verkaufte meine Tante Karoline Beckers, die Gattin von Wilhelm Beckers, nach dem Tode ihres Mannes im Jahre 1899 an Heinrich Zurmahr in Gerderath, dessen Nachfahren noch heute seine Besitzer sind. Sie siedelte alsdann „Auf den Keller" um, wo sie 1917 im Alter von 80 Jahren verstarb.

Im neuen Ohof verblieb bis zu seinem Lebensende sein Erbauer Ludwig Beckers, der seit den 90er Jahren als Rentmeister die Kassengeschäfte der Gemeinden Ratheim, Hilfarth, Dremmen und Oberbruch verwaltete. 68 Jahre lang hat dieser stark gehbehinderte, hochgewachsene Mann, der im öffentlichen und gesellschaftlichen Leben eine markante Persönlichkeit des alten Ratheims um die Jahrhundertwende darstellte, allmorgendlich und allabendlich seine schwere Prothese an- und ab­schnallen müssen, dazu durch den frühen Tod seiner Gattin, die ihm sechs Kinder schenkte, seit 1899 im Witwenstande, aber mütterlich betreut von zwei im Ohof verbliebenen Töchtern Christine Beckers und Maria Orth geborene Beckers, bis er 91jährig im Jahre 1941 die Augen schloss, während Christine Beckers ihren Lebensabend ebenfalls im Ohof verbringt.

Im vergangenen Jahr wurde der Flügelanbau aus dem Jahre 1883 in ein Hotel-Restaurant umgebaut, und wiederum fügen sich das Alte und das Neue in ihrer äußeren, ruhigen und gediegenen Fassade harmonisch zueinander, wenn sie auch nur wenigen Gästen und Heimatfreunden von der wechselvollen Geschichte eines 500jährigen Lehnsgutes und den mannigfachen Schicksalen seiner Pächter und Besitzer heute nichts oder nur noch wenig erahnen lassen.

*) Anmerkung:
Über den Ohof, den Gebursort meiner Großmutter väterlicherseits, liegen zerstreut einige Veröffentlichungen aus der Feder von Ch. Nobis (Schaufenberg) und F. Heckmann (Ratheim) vor. Sie beruhen größtenteils, wie auch meine Ausführungen und Ergänzungen, auf der Gemeindechronik von Ratheim, den Protokollbüchern der St. Sebastianus-Bruderschaft Ratheim sowie verschiedenen Urkunden aus Millicher und eigenem Privatbesitz.


Text und Bild entnommen aus:
KNORR, E. (1960): Der Ohof bei Ratheim. - in: Kreis Erkelenz (Hrsg.): Heimatkalender der Erkelenzer Lande, S. 74ff