Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

und unsere Gemeinschaft der Gemeinden


Einleitung

(von Heinrich Müllers)
 

Unsere Heimat ist nicht sehr reich an Lebenserinnerungen einfacher Leute aus dem Volke, wenigstens sind in der Öffentlichkeit kaum welche bekannt geworden. Und doch sind solche Niederschriften, wo sie sich erhalten haben, oft sehr witzige Geschichtsquellen. Unsere rheinische Metropole Köln besitzt in dem bekannten „Buch Weinsberg“ beispielsweise eine solch einzigartige Chronik, die für die heimatliche Geschichtsforschung zu einer Fundgrube allerersten Ranges geworden ist. Doch sind solche besonders wertvollen Erinnerungen wie im Falle Weinsberg verhältnismäßig sehr selten. Abgesehen davon, daß es sich bei diesem um einen reichen und hochgebildeten Patrizier handelte, daß er auch an einem Brennpunkt damaliger geschichtlicher Ereignisse; denn Köln war die größte Stadt des Deutschlands jener Zeit.

Bei einem einfachen Ackersmann eines kleinen Dorfes darf man natürlich nicht daran denken, in seinen Aufzeichnungen wichtige Mitteilungen zu finden, die für die „große“ Geschichte irgendwie von Bedeutung wären, wenn auch sein Wohnort, Hilfarth an der Rur (Roer), Hückelhoven gegenüber, damals nicht ganz so abseits der großen Verkehrsstraßen lag, wie heute. War doch die Rur der Hauptfluß des Herzogtums Jülich und an seinen Ufern reihten sich all die Städte des Territoriums, die damals einen ziemliche Rolle spielten, aber inzwischen, seitdem der Eisenbahnverkehr vielfach andere Wege suchte, teilweise kleine Landstädtchen geworden sind, die in einen Dornröschenschlaf versunken scheinen und als reizvolle alte „Nester“ mit historischen Erinnerungen, Ruinen und schönen alten Bauten, auch wertvollen Kunstschätzen, ein beliebtes Ziel wandernder Heimatfreunde geworden sind. Man denke z. B. an Linnich, Wassenberg und Heinsberg.

Natürlich beschäftigt sich Keller in seiner Niederschrift auch mit den großen geschichtlichen Ereignissen seiner Zeit, aber durchaus unter dem Gesichtswinkel des kleinen Mannes aus dem Volke, der weitab vom Schauplatz der Geschehnisse wohnt, infolgedessen auch nur vom Hörensagen berichtet, die Motive der Akteure nicht einmal ahnt und ganz naiv sich zu erklären sucht (beispielsweise bei den russischen und polnischen Dingen), mehrfach auch ganz falsch darüber berichtet ist, wie z. B. bei dem Verhältnis Friedrichs des Großen zu dem Zar Peter und der Zarin Katharina. Und doch werden auch diese Abschnitte seiner Aufzeichnungen für uns dadurch wertvoll, daß sie uns die Spiegelung jener Ereignisse im Lichte der breiten Schichten des Volkes in einer Zeit zeigen, die Zeitungen sozusagen überhaupt nicht kannte. Wir wundern uns heute, daß schon eine nur so weit gehende Kenntnis von all diesen Dingen in so verhältnismäßig breite Schichten drang. Und wie erkennen auch daraus, wie außerordentlich populär der große Preußenkönig ist ganz Deutschland gewesen ist. Wenn Goethe uns in „Dichtung und Wahrheit“ erzählt, daß man in seiner Jugend in seinem Elternhause und in Freundeskreisen ganz „fritzische“ gesinnt war, so mag man aus Kellers Berichten ersehen, daß man auch im Jülicher Land in vielen Kreisen ähnlich dachte; denn wenn Keller es auch nirgends ausdrücklich sagt, so merkt man doch deutlich an seiner ganzen Art, der Darstellung, daß seine Sympathien auch durchaus auf seiten Friedrichs sind.

Eines bleibt noch ganz besonders zu erwähnen: Es ist geradezu auffallend und erinnert einen unwillkürlich an die Methode des modernen Historikers, wie Keller immer wieder angibt, woher er sein Wissen um gewisse Dinge hat. Da nennt er beispielsweise als Gewährsmann für seine Mitteilungen über italienische Ernteverhältnisse einen „hiesigen Glasmacher, dem seine Briefe solches melden“. Interessant ist es, daraus zu ersehen. Wie weit die Geschäftsverbindungen Hilfarths damals reichten. Ein andermal erzählt er von einem Hilfarther, der als Knecht beim General Schwerin gedient und „selbst 17 blutigen Bataillen beigewohnt“ habe. Von der großen Rheinüberschwemmung 1784 erfährt er Einzelheiten durch einen Kollektanten aus dem Bergischen, der bei ihm war, durch eine Predigt des (katholischen) Pastors zu Linn bei Krefeld, die er gelesen hat und von den Zerstörungen in Mülheim / Rhein insbesondere durch Kollektenbriefe der dortigen reformierten Gemeinden, denn er sagt, „wir haben eine gute Kollekte und Beisteuer dafür tun Müssen“. Auch aus Büchern hat er dies gelesen und ein „Mann, welcher mit seinem ganzen Hausgesinde nach Neuengland (Amerika) reiste“, berichtet ihm über die Hungersnot in Sachsen und Mähren. Dies alles, wie auch der ganze Geist, der durch die schlichten Aufzeichnungen weht, erweckt der Eindruck tiefsinnersten Wahrhaftigkeit einer geschlossenen Persönlichkeit, die sich hierzu nicht erst in jedem Falle bemühen muß, sondern der dies selbstverständlicher Ausdruck ihres eigentlichsten Wesens ist. Echte und lebendige Frömmigkeit, wie auch eine warme menschliche Gesinnung sind der Mutterboden, auf dem dieser prachtvolle Mann gewachsen ist. Kein verletzendes Wort fällt über andersgläubige und die Objektivität, mit der er berichtet, ist geradezu vorbildlich. Sein Rechtsgefühl ist unbeirrbar; es ist charakteristisch, wie er auch feindlichen Soldaten, die ins Land kommen, gerecht zu werden versucht und wie er, der Reformierte, empört ist darüber, daß die Franzosen aus katholischen Kirchen und Klöstern die goldenen und silbernen Kirchengeräte und andere Wertsachen „requirieren“; mit bitterer Ironie schreibt er, daß sie das alles getan hätten, „wiewohl der Freiheitsbaum dastehet“.

Sehr interessant für uns Heutige ist auch seine Stellung zum Papiergeld und der beginnenden Inflation, wie ebenso zur allgemeinen Wehrpflicht. Als die Franzosen diese während der Revolution einführten, schreibt er dazu: „Sie zwingen die Leute zum Krieg“. Doch damit sind wir schon bei dem, was den besonderen Wert seiner Chronik für unsere Heimatgeschichte ausmacht: Die Fülle der Geschehnisse, die er mit eigenen Augen sah, über sich, die Seinen und sein Eigentum ergehen lassen mußte und zu denen er Stellung nimmt. Wir haben allen Grund anzunehmen, daß diese Äußerungen nicht etwa nur seine persönliche Ansicht sind, sondern daß wir hier eine „voux populi“ im besten Sinne des Wortes vor uns haben. Manches von dem, was er berichtet, kommt uns ungeheuer vertraut vor, wie z. B. das Wort aus allen möglichen Ersatzmitteln u. a. aus weißen Gurken herzustellen. Man mag daraus erkennen, daß alles „schon dagewesen“ ist und vor allen Dingen dies, daß es die sogenannte „gute, alte Zeit“ nicht gibt, noch je gegeben hat.

Vielleicht wird mancher Leser denken, daß die Keller’sche Chronik ohne die Familiennotizen über Heiraten, Geburten und Sterbefälle hätte veröffentlicht werden sollen, weil das die Allgemeinheit kaum interessiere. Demgegenüber ist zu bemerken, daß auch diese Dinge für die Öffentlichkeit deshalb von großer Bedeutung sind, weil sie für Ahnenforschungen sehr vieler evangelischer Familien der ganzen Gegend eine sehr wichtige Quelle darstellen. Denn die Hauptquelle für derartige Forschungen, die Kirchenbücher der vereinigten reformierten Gemeinden Hückelhoven und Wassenberg, ist durch den großen Brand Hückelhovens im Frühjahr 1790 zerstört worden. In einer solchen Lage sind auch die bescheidensten Überlieferungen aus unbekannten privaten Quellen äußerst wertvoll und geeignet, eine Lücke ausfüllen zu helfen; viele Forscher werden dankbar dafür sein. Wie zuverlässig übrigens diese Mitteilungen aus dem Verwandtenkreise Kellers sind, mag man daraus ersehen, daß überall da, wo eine Nachprüfung der Angaben möglich war, sich die genaueste Übereinstimmung mit den aktenmäßigen Feststellungen anderer Quellen ergab. Daraus und aus der ganzen Art des Schreibers darf man mit Recht schließen, daß auch die anderweitig nicht zu belegenden Mitteilungen familiengeschichtlicher Art der Chronik von absoluter Zuverlässigkeit sind. (Vergleiche hierzu die verschiedenen Fußnoten.)

Aus der treuherzigen Schlußbemerkung Wilhelm Kellers, daß noch ihm „niemand darüber spotte“ usw., ergibt sich, daß er alles, was er erzählt, vor und nach notiert hat und das Ganze dann in seinem 81. Lebensjahre als zusammenhängende Darstellung in seine Bibel schrieb. Am 12. März 1796 beendet er die Niederschrift und 11/2 Jahr später stirbt er an einer Alterskrankheit. Die Bibel erbt sein Sohn Johann und nimmt sich vor, aus seinem Leben noch allerhand hinzuzufügen. Es bleibt aber bei dem Vorsatz, und er schreibt nur einige Familiennotizen hinein. Von ihm geht dann die Bibel in das Besitztum seines einzigen Sohnes Johann Wilhelm, des späteren Pastors von Kelzenberg und Wermelskirchen über, der wiederum allerlei hinzugefügt. Er starb 1885 im 91. Lebensjahre, nachdem er 1878 noch die diamantene Hochzeit gefeiert hatte. Im Besitz seiner Nachkommen befindet sich noch heute diese Bibel, allerdings im Auslande bei seinem Enkel Wilhelm Keller in Böhmen. Seine zahlreiche Nachkommenschaft ist heute über halb Europa verstreut. Besonders erwähnt sei noch die Tatsache, daß der bekannte rheinische Pädagoge Wilhelm Dörpfeld ein Schwiegersohn des Pastors Keller war.

Und nun mögen Wilhelm Keller, sein Sohn und sein Enkel selbst das Wort nehmen.