Pfarrgemeinde St. Johannes d.T. Ratheim 

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Unsere Heimat aus der Sicht eines französischen Beamten im Jahre 1804

von Leo Schreinemacher


Nachdem die französischen Armeen kurz vor Ausgang des 18. Jahrhunderts ins Rheinland eingedrungen waren und das althergebrachte Feudalsystem zerschlagen hatten, gingen sie daran, das eroberte Gebiet in Departements aufzuteilen und ihrem Staate einzugliedern. Aus dem nördlichen Teil des linken Rheinufers machte man das Rur-Departement. Es bestand aus vier Arrondissements (Aachen, Kleve, Köln und Krefeld), die insgesamt in 42 Kantone unterteilt waren. Hauptort mit Sitz des Präfekten war Aachen. Geilenkirchen und Heinsberg gehörten zum Arrondissement Aachen, Erkelenz zum Arrondissement Krefeld.

Im Jahre 1804 gibt ein hoher französischer Verwaltungsbeamter, der Unterpräfekt des Arrondissements Kleve namens A. J. Dorsch, ein Buch heraus mit dem Titel: Statistique du Departement de la Roer (Statistik über das Rur-Departement). In diesem Werk beschreibt der Verfasser aus französischer Sicht Land und Leute unserer Heimat. Es heißt bei ihm u.a.:

Zur Region

Das Rur-Departement ist eines der schönsten im neuen Frankreich. Mit gut gepflegten Feldern verbindet es eine blühende Industrie und einen lebhaften Handel. Es verfügt also über alle Grundlagen des Wohlstandes (S. VII). Das Klima ist gemäßigt, aber sehr feucht. Nebel sind häufig. Der Frühling beginnt spät. Der Herbst ist gewöhnlich schön. Wenn der Boden auch größtenteils fruchtbar ist, so ist er doch mit Sand durchsetzt. Heide und Sumpf wechseln einander ab. Berge gibt es kaum.

Die Wurm entspringt in den Bergen von Limburg. Sie fließt zunächst die Grenze dieses ehemaligen Herzogtums entlang und mündet in der Nähe von Wassenberg in die Rur. Sie liefert einen fetthaltigen Schlamm, der als Dünger verwendet wird. Die Wurm ist, wie auch alle anderen Flussläufe im Departement, sehr fischreich. In der Rur gibt es Lachse und Forellen (S. 4 f). Geilenkirchen ist eine kleine Stadt am Ufer der Wurm, die sie von dem Dorfe Hünshoven trennt. Beide Orte haben insgesamt 2580 Einwohner.

Das Städtchen Heinsberg, das mit Unterbruch zusammen 1942 Einwohner zählt, war früher einmal ein befestigter Platz und Residenz mächtiger Grafen, deren Gebeine unter Marmorplatten im dortigen Dom ruhen (S. 66).

Erkelenz mit einer Bevölkerung von 2529 Leuten kann man als eine alte Stadt bezeichnen. Einst war sie mit starken Stadtmauern umgeben. Im Gemeindehaus ist noch eine Inschrift zu lesen, die besagt, dass eine Frau namens Erka in früheren Zeiten einmal allen Männern ein Beispiel an Mut gegeben hat. Da in der Geschichte keine Jungfrau von Orleans mit diesem Namen bekannt ist, nehme ich an, dass die Frauengestalt, unter der die Inschrift steht, lediglich ein Sinnbild sein soll für die Tapferkeit, die die Bürger dieser Stadt im Laufe der Geschichte bewiesen haben (S. 73).

Seit dem Einmarsch der Franzosen herrscht überall im Departement Ruhe. Man erlebt keine Aufsässigkeit, wie man sie etwa in Belgien beobachten konnte. Wir werden auch von den Räuberbanden verschont, die in benachbarten Departements einige Opfer gefordert haben (S. 108).

Zur Kirche

1803 wurden alle Klöster und andere religiöse Gemeinschaften aufgelöst. Ohne Billigung der Regierung kann kein Priester geweiht werden. Außer den Sonntagen gibt es nur noch vier kirchliche Feiertage, wie es im Konkordat beschlossen wurde (S. 127).

Man muss zur Ehre des Klerus sagen, dass zwischen katholischen, reformierten und lutherischen Christen sowie Juden größte Toleranz herrscht (S. 104).

Am Fest der Kirchweihe schmücken die Katholiken die Straßen auf einzigartige Weise. Quer über die Straßen hängen sie alle Arten von Girlanden. Bei dieser Gelegenheit gehen die Schützenvereine zum Vogelschuss (S. 111).

Zur Bevölkerung

Die Bewohner dieses Landes sind echte Nachkommen der Germanen. Sie haben große blaue Augen und blondes Haar. Die Männer sind im allgemeinen von großer und schöner Gestalt. Nahe der holländischen Grenze sind sie kräftiger und untersetzt. Ihre Zähne sind angegriffen durch den Genuss von Tabak. Die Frauen sind mittelgroß. Ihr Aussehen ist kaum mit der Schönheit von Griechinnen und Französinnen vergleichbar (S. 103). Mit 16 Jahren sind Mädchen heiratsfähig. Eine Frau kann noch mit 50 Jahren Mutter werden. Da diese Frauen robust und mutig sind, wird eine Entbindung nicht schwierig. Eine derartige Fruchtbarkeit und die Arbeit halten manche Krankheiten von der Landbevölkerung fern (S. 113).

Die allgemeine Schulbildung ist vernachlässigt worden. Daher ist es leicht verständlich, dass man unter der Bevölkerung nicht so viele literarisch und wissenschaftlich gebildete Leute findet, wie man es eigentlich erwarten sollte. Bildung ist dort das Vorrecht derer, die sie sich finanziell leisten können. Man braucht sich deshalb auch nicht darüber zu wundern, dass manch einer auf Gauner und Schwätzer hereinfällt (S. 104).
Man versteht wohl sehr leicht, dass der Krieg und die Unruhen nicht zur Besserung der Situation beigetragen haben, zumal da französische Kommissare im Laufe der vergangenen Jahre Bücher, Manuskripte und andere wertvolle Bildungsmittel haben mitgehen lassen. Die Regierung ist natürlich willens, die Mißstände zu beheben. Bewerber für das Lehramt müssen die französische und die deutsche Sprache lesen und schreiben können und die Grundkenntnisse der Dezimalrechnung beherrschen. Ferner müssen sie moralische Grundsätze kennen und eine Lehrbefähigung vorweisen (S.118). Das Hauptübel besteht darin, dass die Lehrer nicht ausreichend bezahlt werden. So kommt es, dass sie sich nicht gänzlich ihrer eigentlichen Aufgabe widmen können. Sie sehen sich gezwungen, sich noch anderwärts den Lebensunterhalt zu verdienen. Es wäre angebracht, ein staatliches Seminar oder eine Schule einzurichten, an der Lehrer ausgebildet werden könnten. Aber wegen Geldmangels ist vorläufig daran nicht zu denken (S. 119).

Ich möchte es den Naturwissenschaftlern überlassen, die Frage zu klären, ob die auffallende Schwerfälligkeit, die den Deutschen, die an der holländischen Grenze leben, eigen ist, auf den übertriebenen Gebrauch von Tee, Bier, Butter oder Tabak zurückzuführen ist, oder ob nicht die häufigen Nebelschwaden, die die Atmosphäre beeinträchtigen, die Ursache sind. Wahrscheinlich jedoch ist der Einfluss des Klimas stärker als der der Ernährungsweise.

Der Wein verleiht denen, die ihn gewohnheitsmäßig trinken, Freude und Aktivität. Aber da er in diesem Lande zu teuer ist, wissen nur wenige Leute sich seiner zu bedienen. Und selbst wenn man ihn hier trinken würde, würde seine Wirkung durch den Einfluss des Klimas wieder aufgehoben.

Die hiesigen Menschen haben gute Sitten. Sie pflegen ihr Wort zu halten. Man nimmt es peinlich genau mit den ehelichen und familiären Bindungen. In den Städten gibt es wenige, auf dem Lande keine Ehescheidungen. Was beim Kriminalgericht verhandelt wird, sind lediglich Betrügereien und Schmuggel. Kindesmord ist so gut wie unbekannt. Und kein einziges Kind vergreift sich am Leben der Eltern, denen es ja sein eigenes Leben verdankt. Menschliche Zuneigung ist aber nicht nur auf den engen Kreis der Familie beschränkt. Man bemüht sich sehr, Armen zu helfen und Tränen zu trocknen. Wohltätige Stiftungen legen davon beredtes Zeugnis ab.

Zur Wirtschaft

Die Architektur befindet sich in diesem Lande noch im Anfangsstadium. Auf dem Lande hat man große Häuser mit viel versprechendem Äußeren, aber innen sind sie schlecht eingerichtet und unbequem. Fast überall ersetzen die Maurer den Architekten. In dieser Hinsicht macht nur Krefeld eine Ausnahme, das eine Menge schön gebauter Häuser besitzt (S. 106).

Fabrikanten und Handelsleute im Rur-Departement haben ein gutes Studium absolviert und die Welt gesehen. Sie nehmen unter den Bürgern den ersten Rang ein. Anders verhält es sich bei Handwerkern, Arbeitern und Tagelöhnern. Meistens sind sie nicht sehr arbeitsfreudig. Einige Tage in der Woche verbringen sie mit Nichtstun. Sie gehen spät an die Arbeit und müssen immer wieder angespornt werden. Sie stellen keine hohen Ansprüche und denken nicht darüber nach, was sie zu tun haben. Um sich ein Roggenbrot und ein wenig schlechten Schnaps zu beschaffen, ist ja auch nicht viel Arbeit erforderlich. Weiter haben sie nicht viele Wünsche. Aber der Luxus, der auch hier aufkommt, wird sie zur Arbeit anregen und die Industrie aufleben lassen (S. 108 ff).

Zur Landwirtschaft

Die Landwirte sind einfach gekleidet. Ihre Kleidung ist aus grobem Tuch hergestellt, die der Arbeiter aus Leinen. Der Stoff stammt aus dem Departement selbst. Sie ernähren sich von dunklem Roggenbrot, Kartoffeln, Kohl, Kalbfleisch und gesalzenem Rind- oder Schweinefleisch. Sie trinken Bier und WacholderschnapS. Die Frauen bevorzugen Tee und Kaffee, die zwar beide sehr schwach sind, aber täglich in großen Mengen getrunken werden.

Ist ein Landwirt krank, so legt man ihn in ein niedrig gebautes Zimmer. Das Bett, das in die Wand eingelassen ist, kann wie ein Schrank geöffnet und geschlossen werden. Die Freunde des Kranken kommen sogar von weither, und jeder glaubt, dass sein Besuch für das Wohlbefinden des Kranken notwendig sei. Sie bleiben oft stundenlang am Bett sitzen, trinken Kaffee und essen dazu Weißbrot. Wenn sich die Krankheit verschlimmert, benachrichtigt man die Nachbarn, die dann bei der Spendung der Sterbesakramente durch den Priester be­hilflich sind. Wenn der Kranke im Todeskampf liegt, versammeln sich Verwandte und Nachbarn wiederum und sprechen Gebete, bis er verschieden ist. Am Tag des Begräbnisses begleiten alle den Verstorbenen zum Friedhof (S. 112 f).

Um zur Regenerierung des Bodens beizutragen, verwendet man verschiedene Arten von Dünger. Der beste von allen ist wohl der Stallmist. Taubenmist hält man auch für sehr wirksam. In der Gegend von Gladbach sammeln ihn Kinder in Körben. In anderen Gegenden streut man dem Hornvieh ein Gemisch von Blättern, Schilf und Stroh, was einen vorzüglichen Dünger ergibt. Misthaufen, die zu lange liegen bleiben, werden schließlich Brutstätten von Insekten, und damit sind sie für die Düngung nutzloS. Um den Fäulnisprozess zu beschleunigen, leitet man die Jauche aus den Ställen auf den Geflügelhof, wo sich auch der Misthaufen befindet. An Orten mit sandigem Boden, wo Heidekraut wächst, vermischt man den Stallmist mit Gras, Farn- und Heidekraut. Oft wird dem Mist auch Mergel beigegeben. Es dauert drei oder vier Jahre, bis seine Wirkung zu erkennen ist. Wo tonhaltiger Boden ist, düngt man mit Kalk, der von Holland oder vom rechten Rheinufer kommt. Torf verwendet man, wenn der Boden sandig ist. Der Bauer vermischt ihn mit Sand und legt darüber eine Schicht Stallmist, worauf noch mehrere Schichten im Wechsel zu folgen pflegen. Das Ganze lässt man zwei Wochen gären. Dieser Dünger hält sich in der Erde zehn bis zwölf Jahre lang (S. 154 ff).

Je nachdem wie der Boden beschaffen ist, fährt man drei- oder manchmal sogar viermal mit dem Pflug über das Feld, bevor die Saat hineinkommt. Dies geschieht mit großer Gewissenhaftigkeit. Es gibt Böden, die man nur 10 cm tief zu pflügen braucht, andere erfordern eine Tiefe von 30 cm (S. 161).
Als Zugtiere braucht man ein bis vier Pferde oder Ochsen. Nie werden Kühe vor den Pflug gespannt (S. 159). Ein Mann kann an einem Tag einen Hektar Land pflügen (S. 162). Die Bauern, die nicht über genug Arbeitskräfte innerhalb ihrer Familie verfügen, nehmen sich Erntehelfer, die sie beköstigen und denen sie pro Tag 60 bis 75 Centimes geben. Die Leute beginnen ihre Arbeit im Morgengrauen und beendigen sie bei Einbruch der Nacht. Während der Mittagshitze legen sie eine Ruhepause ein. Ein Arbeiter schneidet an einem Tag Getreide für 800 bis 1000 Garben.

Um die Frucht zu dreschen, werden die Garben in Reihen gelegt. Zwei Männer schlagen mit dem Dreschflegel dreimal auf eine solche Reihe, wobei sie diese zweimal umwenden. Nachdem man die Körner von Sand, Staub und Strohteilchen gesäubert hat, bringt man sie auf den Speicher. Mehrere von unseren landwirtschaftlichen Fachleuten achten darauf, dass die Körner im Winter einmal monatlich und im Sommer zweimal umgerührt werden; denn nur so lässt sich das Getreide sauber aufbewahren.

Vorausgesetzt, dass es sich um ein normales Jahr handelt und der Boden gut ist, bringt ein Liter Samen acht bis zehn Liter Weizen, sechs bis acht Liter Roggen, zehn Liter Gerste und zehn bis zwölf Liter Hafer. Ein guter Landwirt kann mit Leichtigkeit an einem Tag fünf Hektar Acker einsäen. Das Rur-Departement erzeugt jährlich dreimal so viel an Getreide, wie es für seine Bevölkerung benötigt (S. 165 ff), Weizenbrot gilt als Leckerbissen. Gewöhnlich isst man Roggenbrot. Dieses enthält viel Kleie und ist von schlechter Qualität. Schuld daran sind der Zustand der Mühlen sowie Unkenntnis und Eigensinn der Müller und Bäcker. Vor allem die Windmüller zerquetschen die Körner anstatt sie zu mahlen. Mehr Mühe gibt man sich beim Weizenmehl. Roggenbrot zu essen ist ungesund; denn die Roggenkleie enthält eine Säure, die chronische Krankheiten hervorrufen kann (S. 162).

Hafer wird fast überall angebaut. Seine Körner enthalten nur wenig Mehl. Es ist jedoch ein gutes Futter für die Pferde, und es bewirkt, dass die Hühner Eier legen. Das Haferstroh fressen die Kühe (S. 164)."

Der Verfasser vermerkt, dass er seine Erkenntnisse und Eindrücke vom Rur-Departement im Laufe der sechs vergangenen Jahre gesammelt habe (S. VII). Die Statistik über alle vier Arrondissements ist ganz ausführlich. Auch das kleinste Dörfchen ist darin mit Einwohnerzahl und Angabe seiner kantonalen Zugehörigkeit genannt. Die genaue Darstellung mancher Einzelheiten, die durchaus nicht immer negativ ausfällt, ist gewiss verdienstvoll und hat für uns, die wir die Lebensumstände unserer Vorfahren gerne näher kennen lernen möchten, ihren unbestrittenen Wert. Verdächtig ist allerdings die Unterwürfigkeit, mit der A. J. Dorsch dem Präfekten des Rur-Departements namens Alexandre Méchin sein Buch widmet. Er zollt ihm überschwängliches Lob.

Man kann sagen, dass er sich die revolutionären napoleonischen Vorstellungen weitgehend zu eigen gemacht hat. Vielleicht möchte er sich nochmals in Erinnerung bringen, um in einen höheren Dienstgrad aufzusteigen. Der Name Dorsch hat wohl eher einen deutschen als einen französischen Ursprung. Sollte der Autor etwa aus einem deutschsprachigen Gebiet des alten Frankreich stammen? Wenn dem so wäre, müsste man ihm vorhalten, dass er sich in unangenehmer Weise dem Sieger über das Deutsche Kaiserreich angepasst hätte.

Quelle:
A. J. Dorsch: Statistique du Departement de la Roer. Cologne, de l'imprimerie de Oedenkoven et Thiriart. 1804 (Bischöfliches Diözesanarchiv Aachen).


Entnommen aus:
SCHREINEMACHER, L. (1986): Unsere Heimat aus der Sicht eines französischen Beamten im Jahre 1804. - in: Kreis Heinsberg (Hrsg.): Heimatkalender des Kreises Heinsberg, S. 54ff

(Hervorhebungen, Zwischenüberschriften, Formatierung und Anpassung an die neue Rechtschreibung von Helmut Winkens)